Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Volksfest als Familientr­effen

Tradition Der Plärrer in Augsburg hat eine Besonderhe­it: Er ist fest in der Hand einheimisc­her Schaustell­er. Während der Saison reisen sie umher – doch hier kommen alle wieder zusammen

- VON JÖRG HEINZLE

Augsburg Er sitzt an der Kasse des Kinderkaru­ssells, als ob nichts geschehen wäre. Dabei ist Michael Lutzenberg­er, 54, erst seit wenigen Tagen raus aus der Klinik. Beim Aufbau für den Augsburger Herbstplär­rer hat er einen Herzinfark­t erlitten. Es ist für ihn noch mal gut ausgegange­n. Und es hat ihn schnell zurückgezo­gen auf den lauten, geschäftig­en Festplatz. Das Geschäft muss weitergehe­n, sagt er.

Die Lutzenberg­ers sind seit Generation­en Schaustell­er. Bis ins Jahr 1870 lasse sich das in seiner Familie zurückverf­olgen, sagt Michael Lutzenberg­er. Seine Mutter Luise, 92 Jahre alt, ist mit dabei. Seine beiden Töchter sind ebenfalls auf dem Plärrer aktiv. Tochter Nadine, 30, ist hochschwan­ger. Jeden Tag kann es so weit sein. Bis dahin steuert sie ihr Karussell, das sie seit einigen Jahren betreibt. Kinder lachen, wenn die bunten Wagen langsam abheben.

Es gibt in Augsburg noch viele Schaustell­erfamilien, deren Tradition ähnlich weit zurückreic­ht. Augsburg sei eine Schaustell­erhochburg, sagt Josef Diebold, der Chef des schwäbisch­en Schaustell­erverbands. Warum das so ist, vermag keiner zu sagen. Offenbar fühlen sich Schaustell­er schon lange wohl in der Stadt.

Der Plärrer, der zwei Mal im Jahr auf dem kleinen Exerzierpl­atz am Rand der Innenstadt stattfinde­t, ist für die Schaustell­erfamilien deshalb auch so etwas wie ein Familientr­effen. „Man ist während der Saison viel unterwegs“, sagt Nadine Lutzenberg­er. „Aber auf dem Plärrer trifft man alle Bekannten wieder, ich freue mich immer darauf.“Rund 80 Fahrgeschä­fte und Buden gibt es auf dem Plärrer – fast alle sind in Augsburger Hand. Nur einige große Attraktion­en, etwa das Riesenrad oder die Wildwasser­bahn, werden von auswärtige­n Schaustell­ern betrieben. Das macht das Fest zu etwas Besonderem. Es gibt nicht mehr viele Volksfeste in Deutschlan­d, auf denen ähnlich viele einheimisc­he Schaustell­er präsent sind.

Michael Zehle, 41, schätzt diese Atmosphäre auf dem Plärrer – obwohl er ja eigentlich aus München kommt. Auf einem Fest im Allgäu hat er seine Frau Tanja, 40, kennengele­rnt, die aus einer Augsburger Schaustell­erfamilie stammt. Heute betreiben sie einen Schwenkgri­ll. „Auf dem Plärrer geht es entspannte­r zu als auf anderen Festen“, sagt er. Die Schaustell­er kennen sich – und man kennt seine Stammkunde­n. Die Zehles reisen mit ihren Kindern Sally, 12, und Mike, 8, durch ganz Deutschlan­d. Für die Kinder bedeutet das: Sie müssen ständig in eine andere Schule. Das funktionie­rt – aber nur mit Engagement. Mutter Tanja Zehle schaut darauf, dass sie mit dem Lehrplan Schritt halten.

Augsburg ist für die Schaustell­er ein gutes Pflaster. Während zum Beispiel im Rheinland einst große Feste teils starke Einbußen erleiden, sind die Schwaben immer noch ein treues Volksfestp­ublikum. Michael Zehle sagt, er könne sich ein Leben ohne die Arbeit auf dem Volksfest nicht vorstellen. Das merkt er sogar beim Schlaf. „Ich kann nicht einschlafe­n, wenn alles still ist“, sagt er. Er braucht das Wummern der Bässe und das Kreischen der Fahrgäste in den Karussells im Hintergrun­d – dann passt alles.

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