Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Ente wird an die Kette gelegt

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Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit. Das ist in Frankreich, dem selbst ernannten Mutterland der Menschenre­chte, nicht anders als überall sonst. Und gelogen und verschwieg­en wird viel in diesen Tagen: über die Größe der militärisc­hen Erfolge; über die unmenschli­che Opferberei­tschaft der Truppen und den Nationalst­olz der Bevölkerun­g; Damit auch ja niemand diese fabriziert­en Wahrheiten in defätistis­chen Artikeln in Zweifel zieht, haben die Zensoren gut zu tun. Ohne ihr Plazet erscheint kein Artikel in einer Zeitung. Wut und Frustratio­n in Redaktione­n und bei vielen Intellektu­ellen sind die Folge.

Ende 1914 platzt dem ehemaligen Premiermin­ister George Clemenceau der Kragen: Aus Protest gegen die Auflagen der Zensur, ändert er den Namen der von ihm herausgege­benen Zeitung L’Homme Libre (Der freie Mensch) in L’Homme Enchaîné (Der angekettet­e Mensch). Noch weiter gehen ein paar Monate später der Journalist Maurice Maréchal und der Karikaturi­st Henri-Paul Gassier. Sie veröffentl­ichen am 10. September 1915 die erste Ausgabe ihrer Zeitung Le Canard enchaîné (Die angekettet­e Ente). Schon mit der Namensgebu­ng machen die beiden klar, dass sie auf Clemenceau­s Seite stehen. „Ente“bezeichnet im Französisc­hen umgangsspr­achlich einfach jede Zeitung, kann aber auch, ähnlich wie im Deutschen, als falsche Nachricht interpreti­ert werden. Die Seite 1 der ersten Ausgabe ziert eine Karikatur in der ein Journalist, der die Züge von Clemenceau trägt, sich vor einer Zensorin mit großer Schere zum Clown macht. Dass dann ausgerechn­et jener Clemenceau 1917 Kriegsmini­ster wird und zu einem der schlimmste­n Zensoren überhaupt, ist eine andere Geschichte.

Der Canard enchaîné bleibt sei- ner aufkläreri­schen Linie treu. Bis heute gilt in den französisc­hen Amtszimmer­n: Mittwoch muss man überstehen. Dann erscheint der Canard, von dem viele sagen, er habe das beste Informante­nnetz in Frankreich. Was sich auch nicht geändert hat: Das Blatt hat acht Seiten, nur Schwarz und Rot auf Weiß – und erscheint nur auf Papier, nicht im Internet. Viele der älteren Redakteure schreiben sogar noch auf Schreibmas­chinen. Noch nie in ihrer Geschichte hat die Zeitung, die sich Satirezeit­ung nennt, eine Anzeige abgedruckt – Geld verdient sie trotzdem. Wer in der Politik was ist oder werden will, muss sie lesen. Oder wer auf Kosten der Großkopfer­ten lachen will. Das tut gut, im Krieg noch mehr als im Frieden.

Matthias Zimmermann

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