Augsburger Allgemeine (Land West)
Österreich blamiert sich
Urteil Nach einer Serie von Schlampereien muss die brisante Bundespräsidentenwahl wiederholt werden. Die obersten Richter rügen überraschend viele Pannen. Dem Land droht erneut die Spaltung
Wien/Augsburg Ganz Europa blickte vor sechs Wochen gebannt auf Österreich, ob das Wahlvolk mit dem FPÖ-Politiker Norbert Hofer erstmals einen umstrittenen Rechtspopulisten zum Staatsoberhaupt kürt. Viele reagierten dann erleichtert, als am Ende der Grünen-Politiker Alexander Van der Bellen mit einem dünnen Vorsprung von wenigen zehntausend Stimmen knapp als Wahlsieger ausgerufen wurde. Doch seit gestern ist klar: Nichts ist entschieden. Die Wahl ist ungültig.
Die obersten Richter der Alpenrepublik gaben der Anfechtungsklage der knapp unterlegenen FPÖ in fast allen Punkten statt. „Die Stichwahl muss in ganz Österreich zur Gänze wiederholt werden“, sagte der Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, Gerhard Holzinger. Die Richter listeten eine ganze Reihe von Schlampereien bei der Auszählung der entscheidenden Briefwahlstimmen auf.
Obwohl spätestens nach den ersten Hochrechnungen allen Beteiligten klar sein musste, dass die Brief- den hauchdünnen Ausschlag geben, wer an der Spitze Österreichs stehen werde, hielten sich in vielen Teilen des Landes Auszähler nicht an das Wahlgesetz: Mal zählten unbefugte Hilfskräfte aus, mal wurden die versiegelten Wahlumschläge bereits geöffnet, bevor die zuständigen Wahlhelfer und Wahlleiter überhaupt anwesend waren.
Die Unregelmäßigkeiten betreffen insgesamt rund 78 000 Stimmen. Mehr als jede zehnte Briefwahlstimme – und damit fast zwei Prozent des äußerst knappen Wahlergebnisses: Van der Bellen lag am Ende nur mit 50,3 zu 49,7 Prozent vorn.
Das Gericht betonte zwar ausdrücklich, dass es keine nachweisbaren Wahlmanipulationen oder gar Wahlbetrug festgestellt habe. Doch für die Ungültigkeit der Wahl reiche es aus, dass wegen der vielen Gesetzesverstöße dazu zweifellos die Möglichkeit bestanden habe.
Ebenso blamabel für die Behörden ist, dass die Richter eine seit Jahrzehnten übliche Praxis als unwähler zulässig anprangerten: Noch vor Schließung der Wahllokale meldeten viele Wahlämter Zwischenstände ausgezählter Stimmen an Medien weiter. So wunderten sich am Wahltag viele, dass noch während der Abstimmung InternetNachrichtenseiten genaue Prognosen des Kopf-an-Kopf-Rennens lieferten. Dies wertete das Gericht als unerlaubte Wählerbeeinflussung.
Österreichs Innenminister Wolfgang Sobotka räumte die Missstände ein: „Es sei wichtig, dass sich Fehler,
Rechtspopulisten erhalten Rückenwind für Neuwahl
Unregelmäßigkeiten, Schlampereien nie wieder wiederholen können“, betonte der ÖVP-Politiker.
Mit der Wiederholung der Wahl im Herbst dürfte sich die politische Spaltung des Landes vertiefen: Die rechtspopulistische FPÖ erhält mit dem Sieg vor Gericht Rückenwind im Wahlkampf. Der Grüne Van der Bellen baut dagegen auf eine positive Wirkung seines einkassierten Wahlsiegs.
Wien Der 1. Juli ist in Österreich ein besonderer Tag: Für 450000 Schüler haben die neunwöchigen Sommerferien begonnen. Die Sonne strahlt vom blauen Wiener Himmel. Die Lehrer gehen – oft beschenkt mit Blumensträußen – beschwingt nach Hause. Überall sieht man Familien Urlaubsgepäck in Kofferräume ihrer Autos laden. Doch es gibt auch enttäuschte Gesichter. Drei Prozent der Schulkinder haben es in ihrem Zeugnis schwarz auf weiß bekommen: Sie sind durchgefallen und müssen das Schuljahr wiederholen.
Ähnlich unangenehm berührt dürften sich am Freitag viele Anhänger von Alexander Van der Bellen gefühlt haben. Österreichs Verfassungsrichter haben den Grünen als neuen Bundespräsidenten genau eine Woche vor dessen geplanter Amtseinführung trotz dessen Wahlerfolgs durchfallen lassen. Anders als bei dem 72-jährigen BeinaheWahlsieger dürfte bei seinem Gegner Norbert Hofer die Freude groß sein, dass Wahl und Wahlkampf wiederholt werden müssen.
Doch Hofers rechtspopulistische FPÖ vermied in der Stunde des Triumphs ihrer erfolgreichen Wahlanfechtung tunlichst jedes Siegesgeheul. „Es gibt keinen Grund zu jubeln“, bemühte sich Parteichef Heinz-Christian Strache um staatstragende Wirkung vor dem erneuten Kampf um das erste Amt der Republik. Doch Van der Bellen und Hofer werden sich auch im erneuten Wahlkampf nichts schenken. Der Termin findet im September oder Oktober statt; das entscheiden Regierung und Parlament in der kommenden Woche.
Der noch sechs Tage amtierende Bundespräsident Heinz Fischer gab sich alle Mühe, das Urteil schön zu reden. Er sei stolz auf das Verfassungsgericht, sagte der gelernte Staatsrechtler. „Meine Hoffnung ist, dass die Bevölkerung sagt, da ist gepatzt worden und das ist souverän repariert worden“, sagte Fischer. Der Präsident zog ausgerechnet einen der größten österreichischen Skandale als Beispiel heran.
Fischer erinnerte an die Schande von vor dreißig Jahren, als österreichischer Wein mit Glykol gepanscht worden war. Die Verstöße gegen das Lebensmittelrecht hatten das In- und Ausland schockiert. Doch in Reaktion auf den Weinskandal hätten die Weinbauer sich um eine besonders gute Weinqualität bemüht, von deren Ruf sie heute profitierten, so Fischer. Ob die Alpenrepublik allerdings wirklich stolz darauf sein darf, nun auch um internationale Wahlbeobachter der OSZE zu bitten, steht auf einem anderen Blatt.
Das klägliche Bild, das die österreichische Demokratie mit ihrem Aufsehen erregenden Wahlskandal nun international abgibt, besorgt zumindest den Chef der konservativen ÖVP, Reinhold Mitterlehner. Der Vorgang werde nicht zu einer „internationalen Erhöhung der Reputation führen“, sagte er. Er appelliert an seine Landsleute, sie müssten „ihre Kultur ändern, wenn es darum gehe, Spielregeln einzuhalten“. Der „saloppe“Stil sei ein Ausdruck der Mentalität nach dem Motto: Irgendwie werden wir das schon organisieren. Doch „ein fehlerhafter Umgang mit Vorschriften sei nicht zu dulden“.
Was in den Zeugenvernehmungen der Verfassungsrichter zutage gekommen ist, verstört viele. Wer mit dem Internet aufgewachsen ist, versteht nicht, dass die Wahlergebnisse mancherorts per Fax oder Telefon ans Innenministerium übermittelt werden mussten. Unverständlich ist für viele auch, wenn die von den Parteien benannten Beisitzer, die die Rechtmäßigkeit der Auszählung überwachen sollen, ihre Verantwortung unerlaubt an Verwaltungsangestellte abtreten.
Der sozialdemokratische Bundeskanzler Christian Kern sagte, man dürfe die Schuld jetzt nicht auf die Wahlhelfer abladen: „Wir brauchen diese Menschen.“Der SPÖ-Chef sagte, er sei im Grunde froh über die Entscheidung: „Jedes andere Urteil wäre wahrscheinlich ein größeres Problem gewesen.“Damit bezog er sich auf die zahllosen Verschwörungstheorien, die unter den Anhängern der rechtspopulistischen FPÖ kursieren, wonach die Wahl manipuliert worden sei.
Eine Pointe des Urteils ist, dass seit Freitag nicht Van der Bellen, sondern FPÖ-Kandidat Hofer als einer von drei Parlamentspräsidenten zusammen mit seinen Kollegen kommissarisch die Geschäfte des Bundespräsidenten führen. Auf die Frage, ob es nicht besser sei, als Kandidat sein Amt ruhen zu lassen, sagte er, das wäre ein „Riesenfehler“. Hofer geht von „einem kurzen und knackigen Wahlkampf“aus. Eine Ankündigung, die vor allem angesichts der leeren Parteikassen wohl der Realität entspricht. Der FPÖ dürfte ihr Sieg vor Gericht im Wahlkampf nutzen.
Das heißeste Eisen dürfte erneut der Umgang mit der Flüchtlingskrise werden. Im Herbst könnte die Zahl der Asylberechtigten so hoch sein, dass Österreich den „Notstand“ausruft. Zündstoff für viele TV-Duelle ist garantiert. Der Grüne Van der Bellen verspricht sich von seinem gekippten Wahlerfolg Siegeschancen: „Wenn ich einmal unter widrigen Umständen gewonnen habe, dann kann ich das auch ein zweites Mal“, betonte er. „Darauf baue ich.“
„Dieser Vorgang wird sicher nicht zu einer internationalen Erhöhung der Reputation führen.“