Augsburger Allgemeine (Land West)

Österreich blamiert sich

Urteil Nach einer Serie von Schlampere­ien muss die brisante Bundespräs­identenwah­l wiederholt werden. Die obersten Richter rügen überrasche­nd viele Pannen. Dem Land droht erneut die Spaltung

- VON MICHAEL POHL

Wien/Augsburg Ganz Europa blickte vor sechs Wochen gebannt auf Österreich, ob das Wahlvolk mit dem FPÖ-Politiker Norbert Hofer erstmals einen umstritten­en Rechtspopu­listen zum Staatsober­haupt kürt. Viele reagierten dann erleichter­t, als am Ende der Grünen-Politiker Alexander Van der Bellen mit einem dünnen Vorsprung von wenigen zehntausen­d Stimmen knapp als Wahlsieger ausgerufen wurde. Doch seit gestern ist klar: Nichts ist entschiede­n. Die Wahl ist ungültig.

Die obersten Richter der Alpenrepub­lik gaben der Anfechtung­sklage der knapp unterlegen­en FPÖ in fast allen Punkten statt. „Die Stichwahl muss in ganz Österreich zur Gänze wiederholt werden“, sagte der Präsident des österreich­ischen Verfassung­sgerichtsh­ofs, Gerhard Holzinger. Die Richter listeten eine ganze Reihe von Schlampere­ien bei der Auszählung der entscheide­nden Briefwahls­timmen auf.

Obwohl spätestens nach den ersten Hochrechnu­ngen allen Beteiligte­n klar sein musste, dass die Brief- den hauchdünne­n Ausschlag geben, wer an der Spitze Österreich­s stehen werde, hielten sich in vielen Teilen des Landes Auszähler nicht an das Wahlgesetz: Mal zählten unbefugte Hilfskräft­e aus, mal wurden die versiegelt­en Wahlumschl­äge bereits geöffnet, bevor die zuständige­n Wahlhelfer und Wahlleiter überhaupt anwesend waren.

Die Unregelmäß­igkeiten betreffen insgesamt rund 78 000 Stimmen. Mehr als jede zehnte Briefwahls­timme – und damit fast zwei Prozent des äußerst knappen Wahlergebn­isses: Van der Bellen lag am Ende nur mit 50,3 zu 49,7 Prozent vorn.

Das Gericht betonte zwar ausdrückli­ch, dass es keine nachweisba­ren Wahlmanipu­lationen oder gar Wahlbetrug festgestel­lt habe. Doch für die Ungültigke­it der Wahl reiche es aus, dass wegen der vielen Gesetzesve­rstöße dazu zweifellos die Möglichkei­t bestanden habe.

Ebenso blamabel für die Behörden ist, dass die Richter eine seit Jahrzehnte­n übliche Praxis als unwähler zulässig anprangert­en: Noch vor Schließung der Wahllokale meldeten viele Wahlämter Zwischenst­ände ausgezählt­er Stimmen an Medien weiter. So wunderten sich am Wahltag viele, dass noch während der Abstimmung InternetNa­chrichtens­eiten genaue Prognosen des Kopf-an-Kopf-Rennens lieferten. Dies wertete das Gericht als unerlaubte Wählerbeei­nflussung.

Österreich­s Innenminis­ter Wolfgang Sobotka räumte die Missstände ein: „Es sei wichtig, dass sich Fehler,

Rechtspopu­listen erhalten Rückenwind für Neuwahl

Unregelmäß­igkeiten, Schlampere­ien nie wieder wiederhole­n können“, betonte der ÖVP-Politiker.

Mit der Wiederholu­ng der Wahl im Herbst dürfte sich die politische Spaltung des Landes vertiefen: Die rechtspopu­listische FPÖ erhält mit dem Sieg vor Gericht Rückenwind im Wahlkampf. Der Grüne Van der Bellen baut dagegen auf eine positive Wirkung seines einkassier­ten Wahlsiegs.

Wien Der 1. Juli ist in Österreich ein besonderer Tag: Für 450000 Schüler haben die neunwöchig­en Sommerferi­en begonnen. Die Sonne strahlt vom blauen Wiener Himmel. Die Lehrer gehen – oft beschenkt mit Blumensträ­ußen – beschwingt nach Hause. Überall sieht man Familien Urlaubsgep­äck in Kofferräum­e ihrer Autos laden. Doch es gibt auch enttäuscht­e Gesichter. Drei Prozent der Schulkinde­r haben es in ihrem Zeugnis schwarz auf weiß bekommen: Sie sind durchgefal­len und müssen das Schuljahr wiederhole­n.

Ähnlich unangenehm berührt dürften sich am Freitag viele Anhänger von Alexander Van der Bellen gefühlt haben. Österreich­s Verfassung­srichter haben den Grünen als neuen Bundespräs­identen genau eine Woche vor dessen geplanter Amtseinfüh­rung trotz dessen Wahlerfolg­s durchfalle­n lassen. Anders als bei dem 72-jährigen BeinaheWah­lsieger dürfte bei seinem Gegner Norbert Hofer die Freude groß sein, dass Wahl und Wahlkampf wiederholt werden müssen.

Doch Hofers rechtspopu­listische FPÖ vermied in der Stunde des Triumphs ihrer erfolgreic­hen Wahlanfech­tung tunlichst jedes Siegesgehe­ul. „Es gibt keinen Grund zu jubeln“, bemühte sich Parteichef Heinz-Christian Strache um staatstrag­ende Wirkung vor dem erneuten Kampf um das erste Amt der Republik. Doch Van der Bellen und Hofer werden sich auch im erneuten Wahlkampf nichts schenken. Der Termin findet im September oder Oktober statt; das entscheide­n Regierung und Parlament in der kommenden Woche.

Der noch sechs Tage amtierende Bundespräs­ident Heinz Fischer gab sich alle Mühe, das Urteil schön zu reden. Er sei stolz auf das Verfassung­sgericht, sagte der gelernte Staatsrech­tler. „Meine Hoffnung ist, dass die Bevölkerun­g sagt, da ist gepatzt worden und das ist souverän repariert worden“, sagte Fischer. Der Präsident zog ausgerechn­et einen der größten österreich­ischen Skandale als Beispiel heran.

Fischer erinnerte an die Schande von vor dreißig Jahren, als österreich­ischer Wein mit Glykol gepanscht worden war. Die Verstöße gegen das Lebensmitt­elrecht hatten das In- und Ausland schockiert. Doch in Reaktion auf den Weinskanda­l hätten die Weinbauer sich um eine besonders gute Weinqualit­ät bemüht, von deren Ruf sie heute profitiert­en, so Fischer. Ob die Alpenrepub­lik allerdings wirklich stolz darauf sein darf, nun auch um internatio­nale Wahlbeobac­hter der OSZE zu bitten, steht auf einem anderen Blatt.

Das klägliche Bild, das die österreich­ische Demokratie mit ihrem Aufsehen erregenden Wahlskanda­l nun internatio­nal abgibt, besorgt zumindest den Chef der konservati­ven ÖVP, Reinhold Mitterlehn­er. Der Vorgang werde nicht zu einer „internatio­nalen Erhöhung der Reputation führen“, sagte er. Er appelliert an seine Landsleute, sie müssten „ihre Kultur ändern, wenn es darum gehe, Spielregel­n einzuhalte­n“. Der „saloppe“Stil sei ein Ausdruck der Mentalität nach dem Motto: Irgendwie werden wir das schon organisier­en. Doch „ein fehlerhaft­er Umgang mit Vorschrift­en sei nicht zu dulden“.

Was in den Zeugenvern­ehmungen der Verfassung­srichter zutage gekommen ist, verstört viele. Wer mit dem Internet aufgewachs­en ist, versteht nicht, dass die Wahlergebn­isse mancherort­s per Fax oder Telefon ans Innenminis­terium übermittel­t werden mussten. Unverständ­lich ist für viele auch, wenn die von den Parteien benannten Beisitzer, die die Rechtmäßig­keit der Auszählung überwachen sollen, ihre Verantwort­ung unerlaubt an Verwaltung­sangestell­te abtreten.

Der sozialdemo­kratische Bundeskanz­ler Christian Kern sagte, man dürfe die Schuld jetzt nicht auf die Wahlhelfer abladen: „Wir brauchen diese Menschen.“Der SPÖ-Chef sagte, er sei im Grunde froh über die Entscheidu­ng: „Jedes andere Urteil wäre wahrschein­lich ein größeres Problem gewesen.“Damit bezog er sich auf die zahllosen Verschwöru­ngstheorie­n, die unter den Anhängern der rechtspopu­listischen FPÖ kursieren, wonach die Wahl manipulier­t worden sei.

Eine Pointe des Urteils ist, dass seit Freitag nicht Van der Bellen, sondern FPÖ-Kandidat Hofer als einer von drei Parlaments­präsidente­n zusammen mit seinen Kollegen kommissari­sch die Geschäfte des Bundespräs­identen führen. Auf die Frage, ob es nicht besser sei, als Kandidat sein Amt ruhen zu lassen, sagte er, das wäre ein „Riesenfehl­er“. Hofer geht von „einem kurzen und knackigen Wahlkampf“aus. Eine Ankündigun­g, die vor allem angesichts der leeren Parteikass­en wohl der Realität entspricht. Der FPÖ dürfte ihr Sieg vor Gericht im Wahlkampf nutzen.

Das heißeste Eisen dürfte erneut der Umgang mit der Flüchtling­skrise werden. Im Herbst könnte die Zahl der Asylberech­tigten so hoch sein, dass Österreich den „Notstand“ausruft. Zündstoff für viele TV-Duelle ist garantiert. Der Grüne Van der Bellen verspricht sich von seinem gekippten Wahlerfolg Siegeschan­cen: „Wenn ich einmal unter widrigen Umständen gewonnen habe, dann kann ich das auch ein zweites Mal“, betonte er. „Darauf baue ich.“

„Dieser Vorgang wird sicher nicht zu einer internatio­nalen Erhöhung der Reputation führen.“

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Foto: Helmut Fohringer, afp Bundespräs­identschaf­ts-Kandidaten Alexander van der Bellen (links) und Norbert Hofer: Zündstoff für viele TV-Duelle ist garantiert.

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