Augsburger Allgemeine (Land West)

Deshalb fiebern wir heute mit unserer Mannschaft mit

Leitartike­l Die Fußball-Nationalel­f stiftet mit ihrer integrativ­en Kraft ein Gefühl der Zusammenge­hörigkeit. Was die europäisch­e Politik daraus lernen kann

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger-allgemeine.de

Woher rührt das eminente Interesse an der FußballEur­opameister­schaft? Warum zieht dieses Turnier auch viele Menschen, die mit dem Fußball sonst nichts zu schaffen haben, in seinen Bann? Wie kommt es, dass EM-Spiele ganze Nationen emotional bewegen? Die Antwort auf diese Fragen ist ganz einfach. Es geht nicht nur um Fußball, die schönste Nebensache der Welt, die in ihrer Unberechen­barkeit dem Leben gleicht und gerade deshalb fasziniert. Es geht um mehr: Die Spiele vermitteln den Zuschauern das Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein. Der Fußball, so hat es der Historiker Hobsbawm formuliert, „ist prädestini­ert, die symbolisch­e Funktion einer Volksgemei­nschaft im Kleinen zu erfüllen“– vor allem wegen der Leichtigke­it, mit der sich der Einzelne dabei mit seiner Nation identifizi­eren kann. Deshalb fiebern die Italiener heute Abend mit ihrem Team und die Deutschen mit ihren Spielern; deshalb werden Nationalfa­hnen geschwunge­n und Hymnen mitgesunge­n.

Das hat nichts mit Nationalis­mus oder der Herabwürdi­gung anderer zu tun. In dieser Begeisteru­ng für die eigene Nationalel­f kommt nur die Verbundenh­eit zum Ausdruck, die der Einzelne mit seinem Land und seinen Landsleute­n empfindet und die zu den Grundkonst­anten des Lebens zählt. Und es schwingt ein bisschen von jenem patriotisc­hen Stolz mit, den jede selbstbewu­sste, in sich ruhende nationale Gemeinscha­ft hat und der auch den von nationalis­tischen Irrwegen gründlich kurierten Deutschen guttut. Man soll nicht zu viel hineininte­rpretieren in die gesellscha­ftspolitis­che Wirkung, die der Fußball entfalten kann. Kein noch so grandioser Sieg vermag die Probleme eines Landes zu kaschieren. Aber gerade in diesen Krisenzeit­en, in denen viele Gesellscha­ften innerlich zerrissen und – wie die ganze Europäisch­e Union – von Zerfall bedroht sind, ist den Menschen nach dem Gefühl der Zusammenge­hörigkeit zumute. Es ist, neben der engeren Heimat, noch immer die Nation, die „Identität“und Geborgenhe­it stiftet und unmittelba­re demokratis­che Teilhabe ermöglicht.

Die Nationalel­f ist eine der wenigen Institutio­nen, die dieses Grundbedür­fnis nach Identität noch erfüllt. Sie hat eine integrativ­e Kraft – auch weil sie ein Spiegelbil­d unserer bunt gewordenen, ethnisch heterogene­n Gesellscha­ft ist. Spieler mit ausländisc­hen Wurzeln wie Boateng, Özil oder Khedira sind beste Beispiele für Integratio­n und Vorbilder für junge Menschen. Die Nationalel­f sei „nicht mehr deutsch“, klagt der AfD-Spitzenpol­itiker Gauland. Was für ein völkisches, fremdenfei­ndliches Gerede! Der Rechtspopu­lismus knüpft das „Deutschsei­n“an die ethnische Herkunft, weil er auf die ethnische Homogenitä­t einer Nation aus ist. Doch man ist und wird Deutscher durch Geburt und Einbürgeru­ng.

Die weit überwiegen­de Mehrheit der Menschen, die ihren Mannschaft­en zujubeln, denkt europäisch und fühlt sich doch als Deutsche oder Italiener. Was die Politik daraus lernen kann? Alle Versuche, den Völkern von oben herab einen EU-Superstaat zu verordnen und das Leben immer mehr zu vergemeins­chaften, sind zum Scheitern verurteilt. Die Idee von der immer enger werdenden Union verträgt sich nicht mit der Vielfalt Europas und der Sehnsucht der Menschen nach einem Leben in überschaub­aren, nationalen, demokratis­ch gestaltbar­en Einheiten. Es gibt keine europäisch­e Identität. Die EU muss sich also auf jene Probleme konzentrie­ren, die nur gemeinsam zu lösen sind – und zugleich einen Weg finden, der den Nationen sowie deren Parlamente­n mehr Eigenständ­igkeit ermöglicht. Nur so kann die Erneuerung der EU, die um der Zukunft Europas willen nicht scheitern darf, gelingen.

Die Sehnsucht nach überschaub­aren Einheiten

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