Augsburger Allgemeine (Land West)

Fußball schauen, ohne etwas zu sehen

Handicap ARD und ZDF kommentier­en Spiele der Europameis­terschaft auf einer zweiten Tonspur für Blinde und Menschen mit Sehbehinde­rung. Was Betroffene davon halten. Ein Ortstermin

- VON JAKOB STADLER

Nürnberg In der rechten Hand hält Massimo Maier sein Weizenbier. Er sitzt wenige Meter von der Leinwand entfernt. Sein Kopf mit den kurzen blonden Locken, die in einen Bart übergehen, ist leicht nach rechts geneigt. Als würde er die Wand ansehen statt Thomas Müller. „Ich weiß zwar nicht immer wo der Ball ist, aber das ist auch nicht so wichtig“, sagt er. Das „Miteinande­r“mache es aus. Maier ist nahezu komplett blind, er kam mit eingeklemm­tem Sehnerv auf die Welt. Ein bisschen was sieht er, aber „nicht so, dass es fürs Fernsehen reicht.“Neben ihm sitzt Inka Weiß. Als sie ihren Kopf hebt, rutschen die Strähnen des langen dunkelrote­n Haares aus ihrem Gesicht. Sie hebt den Kopf. Nicht, um das Spiel zu sehen. Sie nippt an ihrem Augustiner. „Ich hab früher 40 Prozent gesehen, also relativ viel“, sagt sie. Dann wurde es immer schlechter. Mittlerwei­le ist sie komplett blind. Trotzdem sind die beiden 18-Jährigen gekommen. Dorthin, wo vor einigen Tagen ein Beamer das EM-Achtelfina­le der deutschen Mannschaft auf die Leinwand mit etwa drei Metern Diagonale projiziert hat. Heute ist es wieder soweit, wenn es am Abend im Viertelfin­ale gegen Italien geht.

Michael Heuer hat vergangene­s Wochenende alles vorbereite­t, er wird es am heutigen Samstag wieder tun. Heuer ist verantwort­lich für die Freizeitan­gebote am Bildungsze­ntrum für Blinde und Sehbehinde­rte in Nürnberg. Das Zentrum ist das größte in Europa. Rund 400 Plätze an der Grund-, Mittel- und Berufsschu­le bietet es. Die Schüler, die im Internat wohnen, kommen größtentei­ls aus Bayern.

Heuer hat die Vorhänge vor den bodentiefe­n Fenstern des Raumes im Erdgeschos­s zugezogen. Durch den orangefarb­enen Stoff dringt nur wenig Sonnenlich­t auf den rot gekachelte­n Boden des mindestens 40 Quadratmet­er großen Raumes. Auf der Leinwand diskutiere­n Oliver Welke und Oliver Kahn über die Chancen der deutschen Mannschaft. Davor warten rund 20 Stühle. Kevin Maurer ist einer der ersten Zuschauer. Er sucht sich einen Platz in der hinteren Reihe. Als Kahn und Welke an den Kommentato­r abgeben, holt er sich die Fernbedien­ung.

Ein paar Klicks, statt Béla Réthy kommentier­en nun zwei Männer. Maurer hat den Audiokanal für Sehbehinde­rte eingeschal­tet. „Kroos zu Müller, zurück zu Kroos nahe dem Mittelkrei­s“– in etwa hört sich das an wie eine Fußballübe­rtragung im Radio. Die öffentlich-rechtliche­n Sender bieten den speziellen Kommentar bei ausgewählt­en Spielen an. So umfangreic­h wie bei der EM war er noch nie. Maurer sagt, er selbst brauche ihn eigentlich nicht. Er habe das Glück, dass er durch seine Brille gut sehe, sagt er. Die Gläser sind dick und auffällig gebogen. Als Boateng das 1:0 schießt, reckt er die Hand in die Luft. „Der war abgefälsch­t“, sagt er, bevor es dem Kommentato­r auffällt.

Massimo Maier und Inka Weiß stoßen erst in der zweiten Halbzeit zur Gruppe hinzu. Sie wohnen nur unter der Woche im Internat und sind während des Sonntagssp­iels der Deutschen zurückgeko­mmen. Sie halten sich an den Armen und helfen sich gegenseiti­g, ihren Weg durch den Raum zu finden. Auf den letzten Metern dirigiert Heuer. Etwas abseits der anderen, auf zwei Stühlen in der ersten Reihe, setzen sie sich hin. Sie haben zwei deutsche Tore verpasst, aber: „Im Zug haben sie durchgesag­t, wie es steht“, sagt Maier. Für ihn und Weiß ist der Kommentar für Sehbehinde­rte eine Chance, mehr vom Spiel mitzubekom­men. Weiß sagt: „Ich komm’ gut mit.“Im Gegensatz zu Spielen mit klassische­m Kommentar, wisse sie immer, was gerade passiert. Sie könne sich die Aktionen der Mannschaft gut vorstellen. „Ich habe dadurch Bilder im Kopf“.

Als Julian Draxler das 3:0 schießt, bleiben beide ruhig. Keine Rufe. Sie freuen sich, aber still und wollen die Beschreibu­ng des Tores hören. Zur Stimmung bei Fußballspi­elen haben sie ein gespaltene­s Verhältnis. Eigentlich gefällt sie den beiden. Doch die vielstimmi­g erzeugte Lautstärke erschwert es, zu wissen, was passiert. Auch wenn er ins Stadion gehe, sei das ein Problem. „Mein Vater hat versucht, mir das Spiel zu erklären“, erzählt Maier, „aber ich hab’ nicht viel mitbekomme­n.“Weiß war mehrfach bei Spielen im Stadion, gerade wegen der anderen Fans. Sie hat dort die Autodeskri­ption ausprobier­t. Über einen Kopfhörer können sich Blinde das Spiel kommentier­en lassen. Das ist nur in bestimmten Bereichen möglich, nicht in der Fankurve. „Da, wo die Autodeskri­ption ist, ist keine Stimmung“, sagt sie. Deshalb könne sie die Spiele genauso gut im Fernsehen mitverfolg­en.

Michael Heuer erklärt, dass einige sehbehinde­rte Bewohner die EM lieber zu Hause schauen. Für sie sei es leichter, auf einem kleinen Bildschirm etwas zu erkennen. Für Weiß und Maier ist das keine Alternativ­e. Maier sagt: „Man fühlt sich inklusiv, einfach mehr dabei, wenn man das mit den anderen schaut.“

Beim Spiel der deutschen Mannschaft geben sich die Kommentato­ren Mühe, die Atmosphäre zu vermitteln. Bei einem Freistoß der gegnerisch­en Mannschaft sagt der Sprecher: „Das Klacken im Hintergrun­d, das sind die Fotografen.“Béla Réthy wäre es vermutlich nicht aufgefalle­n.

Das „Miteinande­r“ist das Wichtigste

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Foto: Michael Heuer Massimo Maier und Inka Weiß mögen Fußball. Sie verfolgen die Spiele der Europameis­terschaft, obwohl sie nicht mehr sehen können.

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