Augsburger Allgemeine (Land West)
Der Ausgang ist offen
Geschichte Ob sich Cannabis als Medikament etablieren wird, muss sich erst noch zeigen
Cannabis ist in der Medizin kein neues Thema: Die Pflanze sei schon lange als Heilmittel bekannt, schreibt Dr. Peter Cremer-Schaeffer, Leiter der Bundesopiumstelle im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, in seinem neu erschienenen Buch Cannabis. Was man weiß, was man wissen sollte. Hildegard von Bingen etwa habe es in ihren Schriften aus dem 12. Jahrhundert bereits als pflanzliches Heilmittel beschrieben.
Lange freilich sei die Pflanze nur eine unter vielen gewesen – bis zum 19. Jahrhundert: Nach den Erfahrungsberichten zweier Ärzte, die Cannabis gegen Rheumatismus, Cholera, Typhus und weitere Infektionskrankheiten eingesetzt hatten, befassten sich immer mehr Ärzte mit der Anwendung von Cannabis als Heilmittel und führten damit Experimente bei den verschiedensten Krankheiten durch. Zugleich wuchs das Wissen über den Rausch, den Cannabis auslöste – und so wurde der Verkauf von Cannabis in Deutschland 1872 erstmals reguliert.
Ende des 19. Jahrhunderts, so Cremer-Schaeffer, erreichte die Verwendung von Cannabis als Heilpflanze einen vorläufigen Höhepunkt. Die Firma Merck bot Präparate an, die gegen Schmerzen, Anfallsleiden, Krämpfe und vieles andere mehr eingesetzt wurden. Cannabis war zwar nicht in der Lage, Krankheiten zu heilen, konnte jedoch quälende Symptome lindern.
Später machten die Entwicklung neuer synthetischer Arzneimittel und die Klassifikation von Cannabis als Droge die Pflanze erst einmal uninteressant – dennoch fand im Verborgenen weitere Forschung statt. 1964 wurde THC (Tetrahydrocannabinol) isoliert, der am stärksten wirksame psychoaktive Bestandteil der Cannabispflanze, 1988 das körpereigene Endocannabinoidsystem entdeckt, durch das die Cannabinoide ihre Wirkung entfalten können.
In den 1980er Jahren wurden Fertig-Arzneimittel auf Cannabinoid-Basis zugelassen. In den USA kam 1985 Dronabinol unter dem Namen Marinol auf den Markt, wobei es sich dabei um THC handelt. Während der Aids-Epidemie half Marinol, den Gewichtsverlust der Erkrankten zu bremsen und ihren Appetit anzuregen. Außerdem wirkte es gegen Übelkeit und Erbrechen bei einer Chemotherapie. In Deutschland sind Fertigarzneimittel mit Dronabinol nicht zugelassen, können aber seit 1998 als Rezepturarzneimittel von Ärzten verschrieben werden.
In Deutschland wurde 1983 Cesametic mit dem Wirkstoff Nabilon zugelassen, einem vollsynthetisch hergestellten Cannabinoid. Die Anwendungsgebiete waren die Gleichen wie bei Dronabinol. Das Mittel wurde jedoch nie vermarktet und die Zulassung 1988 daher wieder gelöscht. Dennoch kann es im Einzelfall verschrieben und aus dem Ausland bezogen werden.
Ein Cannabis-Vollextrakt, der alle Inhaltsstoffe der Pflanze enthält, steht seit 2011 mit dem Fertigarzneimittel Sativex zur Verfügung. Es handelt sich dabei um ein Mundspray, das gegen schmerzhafte Spastiken bei multipler Sklerose wirksam ist, wie Studien zeigen konnten.
Was wirksam ist, hat aber bekanntlich auch Nebenwirkungen.
Was wirkt, hat auch Nebenwirkungen
Bei Cannabispräparaten (Cannabinoiden) ist das nicht anders. Cremer-Schaeffer listet auf: Sehr häufig, das heißt bei mindestens jedem zehnten Patienten, seien in Studien Schwindel oder Müdigkeit als Nebenwirkung aufgetreten. Häufig, sprich in mehr als einem von 100 Fällen, sei es zu Veränderungen des Appetits, Depression, Desorientierung, Euphorie, Gleichgewichtsund Gedächtnisstörungen, Sehstörungen, Schläfrigkeit, Mundtrockenheit, Übelkeit und anderem gekommen. Herzrasen, Bluthochdruck, Halluzinationen seien weitere, seltene Nebeneffekte gewesen.
Das Fazit des Experten: „Cannabis ist nicht das Arzneimittel, auf das die Welt hunderte Jahre gewartet hat, um endlich die medizinischen Probleme zu lösen, die trotz aller Forschung nicht beherrschbar waren“, schreibt der Leiter der Bundesopiumstelle. Cannabis, erklärt er, sollte jetzt nicht zum Heilsbringer hochstilisiert werden. Die Pflanze, die sich in zurückliegenden Jahrhunderten als Arznei nicht habe durchsetzen können, habe jetzt zwar eine neue Chance verdient – aber der Ausgang sei offen.
S. Hübner-Schroll
Peter CremerSchaeffer: Cannabis. Was man weiß, was man wissen sollte. S. Hirzel Verlag, Stuttgart, 2016. 14,80 Euro
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