Augsburger Allgemeine (Land West)
Volksverschlüsselung
Was für ein Kunstwerk immer gilt, gilt manchmal auch für ein Wort: Es ist schlauer als sein Schöpfer. Weil es, erst einmal in der Welt, zu viel mehr in Bezug steht, als überhaupt beabsichtigt sein konnte. Oder waren sich Telekom und Fraunhofer-Institut bewusst, was da alles anklingt, als sie ihr Projekt, E-Mails künftig sicher vor unerwünschten Zugriffen zu machen, „Volksverschlüsselung“nannten? In Zeiten des Brexit und auch sonst auf breiter Front zunehmender Bestrebungen, sich national abzukapseln, wünschte sich wohl mancher auch kulturell und politisch eine automatische Sicherung nach außen. Begonnen bei der noch erlernbaren Leitkultur Bayerns, gipfelnd unter anderem im von Erdogan anempfohlenen Bluttest für wahres Türkentum.
Vor Jahren noch war Entschlüsselung das große Wort, schlagzeilenträchtig etwa in der Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Es war der Traum von der totalen Transparenz, von der lückenlosen Lesbarkeit des Lebens. Aber schon die Enthüllungen von Verschlüsseltem durch Whistleblower wie Julian Assange ließen manch einen dann wohl doch zu nackt dastehen … Nun also: Völker der Erde, verschlüsselt euch! Doch die MailTechnik wirkt ja nur bei denen, die auf dem gleichen Kanal senden – wer also sicher sein will, kommuniziert nur noch intern, extern heißt Risiko. Aber solange nur wenige verschlüsseln, gibt es auch kaum Empfänger. Darum das Ziel: „flächendeckende Verschlüsselung“. Wohlan, Volk!
Also doch auch: Wohlan, England? Dazu eine kleine Reizwortgeschichte. Sie kamen übers Meer, zu Hunderten, dann zu Tausenden, hungrig, manchmal krank, auf der Flucht vor Krieg und religiöser Verfolgung. Sie landeten an den Küsten Englands, wurden in Zeltstädten aufgefangen und sprachen kein Englisch. Sondern deutsch. Es war das Jahr 1709, es waren Pfälzer auf der Flucht, es war die erste große Ausreisewelle aus Deutschland. Etliche folgten. Intern und extern mischten sich. Es entstand: Europa. Auch ein Kunstwerk.