Augsburger Allgemeine (Land West)
Erich Hackl – Familie Salzmann (18)
DGraz, in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Hanno Salzmann verliert seinen Arbeitsplatz, weil er beiläufig einmal erzählte, dass seine Großmutter im KZ umkam. Eine wahre Geschichte. Erich Hackl: Familie Salzmann, © Diogenes, 186 Seiten, 9,90 ¤
as ist also Hugo, sagte sie zu den Kindern der dritten Klasse, die ihn neugierig anstarrten, er ist bisher in Frankreich zur Schule gegangen und tut sich noch schwer in unserer Sprache, aber mit eurer Hilfe und mit viel Fleiß und ein bißchen Geduld wird er seinen Rückstand bis Sommer sicher aufgeholt haben.
An Geduld mangelte es auch ihr nicht. Außerdem machte es sich Ernestine zur Gewohnheit, jeden Abend eine halbe Stunde lang mit ihm zu üben, und fünfmal die Woche schickte sie ihn zum pensionierten Lehrer Gotthart, einem Junggesellen, der ihm für ein Schmalzbrot oder einen Sterz Nachhilfeunterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen erteilte. Gotthart war nett, sagt Hugo, er hat sich viel Mühe gemacht, eines Nachts hat er mir sogar den Sternenhimmel erklärt. Trotzdem habe ich mich manchmal aus dem Staub gemacht, damit ich nicht zu ihm lernen gehen muß, aber Tini hat mich jedesmal gefunden. Daß ich dann trotz einer Vier in Deutsch
und Heimatkunde in die nächste Klasse versetzt worden bin, ist vor allem ihrem Nachdruck zu verdanken, vermutlich hat Frau Gratzer beim Notengeben auch ein Auge zugedrückt.
Obwohl Textilien wie Lebensmittel längst rationiert waren, gelang es seiner Tante, Hugo binnen kurzem neu einzukleiden. Er war ja in kaputten Schuhen, zerrissenen Strümpfen, einem dünnen Hemd bei ihr aufgetaucht, und im Koffer hatte sie nur seine Geburtsurkunde, einige Fotos, ein Paar getragene Frauenschuhe und eine Nähtasche gefunden. Ein zusätzliches Einkommen verschaffte sie sich als Bedienerin im Haushalt eines ehemaligen Obersten der österreichisch-ungarischen Armee, darüber hinaus war sie auf Tauschhandel und Gefälligkeiten angewiesen. Im Kaufhaus Ulz erwarb sie mit ihrer Kleiderkarte und der ihres Vaters drei Meter Baumwolle oder grobes Leinen, gab einer Bäuerin die Hälfte davon ab, nahm dafür Selchfleisch, das sie mit einer Nachbarin teilte, die als Gegenleistung Hugo die erste lange Hose seines Lebens schneiderte, eine Golfhose, wie er seiner Mutter stolz berichtete. Ernestines Findigkeit kam ebenso ihrer Schwester zugute, der sie jeden Monat ein Päckchen schicken durfte. Aber sie war nicht die einzige, die sich um Juliana kümmerte. Nun hatten wenigstens Luise und Lisa ihre Zurückhaltung aufgegeben und überwiesen mehrmals kleinere Geldbeträge, deren Empfang Juliana ebenso gewissenhaft bestätigte, wie sie Ernestine auftrug, den Geschwistern ihres Mannes für Seife, Kuchen, Wurst und Strümpfe zu danken, ihrem Schwager Karl, ihren Schwägerinnen Tilla, Anna und Käthe, die auch Hugo mit Geschenken bedachten, einem Segelflugzeug zum Beispiel, dem größten, das in Kreuznach aufzutreiben gewesen sei, wie Tilla Juliana und Juliana Hugo versicherte, „da wirst Du Dich freuen und kannst es auf der Turnwiese fliegen lassen, aber gib acht, daß es nicht in den Bach fällt, oder auf einen Baum im Park“.
Das ging so bis in den Sommer hinein. Im Juli ließ Ernestine noch ein Foto von sich und dem Jungen machen und schickte es nach Koblenz. „Ihr seid allerliebst, wie Mutter und Sohn, so sehr sieht Dir Hugo ähnlich“, schrieb Juliana zurück. Dann plötzlich, Ende August einundvierzig, eine Postkarte aus Ravensbrück.
Schuld war die verwitwete Marquise Lucie de Villevert, die ursprünglich Minna Otto hieß, aus Zerbst in Anhalt stammte und vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Namen Juana Manuela als Schönheitstänzerin aufgetreten war. 1940 wurde sie unter dem Verdacht schweren Wirtschaftsbetrugs festgenommen und in das Koblenzer Stadtgefängnis eingeliefert.
In der Hoffnung, damit ihre Lage zu verbessern, erklärte sie sich bereit, Mithäftlinge auszuhorchen. Unbekannt ist, wann sie zu Juliana in die Zelle gelegt wurde, vorstellbar, daß sie deren Vertrauen durch Anekdoten aus ihrer Zeit in Paris gewann, erwiesen, daß sie irgendwann die Rede auf den Reichstagsbrand brachte und fragte, wen denn die Franzosen für den Brandstifter hielten. Juliana antwortete, den Reichstag hat Göring angezündet, das weiß in Frankreich jedes Kind. Als sie daraufhin nochmals vom Gestapomann Adrian, einem Kollegen Müllers, einvernommen wurde, bestritt sie nicht, diese Äußerung gemacht zu haben. Damit, sagte Pfarrer Fechler, war ihr Schicksal besiegelt. Und diese Marquise, fragte Salzmann, als Fechler ihn das nächstemal in der Zelle aufsuchte.
Die ist in der Zwischenzeit auch nach Ravensbrück abgegangen.
Hugo Salzmann blieb noch bis Anfang dreiundvierzig in Koblenz inhaftiert. Kurz vor Jahreswende hatte er die Anklageschrift des Volksgerichtshofes Berlin erhalten. Sie lautete auf Vorbereitung zum Hochverrat, wegen Herstellung und Vertrieb marxistischer Hetzschriften.
Seien Sie gefaßt, sagte Fechler, der das Schriftstück aus dem Gefängnis geschmuggelt und einem befreundeten Rechtsanwalt gezeigt hatte, es kann ein Todesurteil geben. Wenn Sie Glück haben, Zuchthaus. Die Höchststrafe fünfzehn Jahre. Behalten Sie Ihren Mut. Es tut mir leid, daß ich nicht mehr für Sie tun konnte.
Einen Monat war Salzmann dann unterwegs. Von Koblenz nach Köln, von Köln nach Frankfurt, von Frankfurt nach Hannover, von Hannover nach Halle, von Halle nach Berlin. Mit Gefangenentransporten, in Durchgangszellen, die sich nur in den Grobheiten des Wachpersonals voneinander unterschieden.
Irgendwo auf der Strecke ein alter Wärter, der ihm ein Wurstbrot schenkte. Ereignis, das ihm ebenso in Erinnerung blieb wie der Zwischenfall bald nach dem Umsteigen in Frankfurt, wo er mit zwei Franzosen in ein Abteil gesperrt worden war. Sein jähes Bedürfnis, sich ihnen zu erklären, deutlich zu machen, daß er kein gemeiner Deutscher sei. Er zählte die Stationen seiner Freiheitsberaubung auf und beteuerte, als Antifaschist, nicht als Krimineller an die Nazis ausgeliefert worden zu sein. Als sein Vorrat an Vokabeln erschöpft war, lehnte er sich zurück und schwieg, während sie sich, ohne ihn weiter zu beachten, halblaut unterhielten. Dann glaubte er ein Lachen zu hören, helle Stimmen, hinter seinem Rücken. Er drehte sich um und suchte die Wand zum Nebenabteil nach einer Öffnung ab. Unterhalb der Kopfstütze war ein dünnes Loch mit ausgezacktem Rand, das jemand, schon vor langem, heimlich gebohrt haben mußte. Er hielt sein Ohr dagegen. Zwei Frauen, eindeutig.
Salzmann glaubte sogar die südhessische Mundart herauszuhören. Die beiden Franzosen schauten ihn neugierig an. Er zeigte auf die Abteiltür. Attention, pour police. Sie kapierten, einer von ihnen rückte nach vorn, an die Kante der Sitzbank, um einen besseren Blick nach draußen zu haben, für den Fall, daß ein Aufseher auf seinem Kontrollgang vorbeikam. Dann klopfte Salzmann an die Wand, das Klopfen wurde erwidert.
»19. Fortsetzung folgt