Augsburger Allgemeine (Land West)

Triumph einer Unbekannte­n

Porträt Ein weich gekochtes Ei kann bedeutende­r sein als menschlich­e Abgründe oder die Flüchtling­skrise – das hat Sharon Dodua Otoo bewiesen. Ihr Lohn: 25 000 Euro

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Es sind gleich drei schöne Geschichte­n über das Leben, die sich da hinter folgender erst mal ziemlich fachspezif­ischen Nachricht des gestrigen Tages stecken: Sharon Dodua Otoo ist mit dem 40. Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeich­net worden. Und so wie Sie jetzt ziemlich sicher „Sharon wer?“denken, dachte die noch bis vor kurzem „Bachmann was?“. Aber damit, dass also eine Unbekannte dann das ihr unbekannte renommiert­este Wettlesen der deutschspr­achigen Literatur in Klagenfurt gewonnen hat, haben die schönen Geschichte­n eben noch nicht mal begonnen. Geschichte 1 Sharon Dodua Otoo beschreibt sich selbst als „schwarze britische Mutter, Aktivistin, Autorin und Herausgebe­rin“. Tatsächlic­h ist sie für die englischsp­rachige Buchreihe „Witnessed“verantwort­lich und hat auch schon Novellen wie die bei uns unter dem schönen Titel „die dinge, die ich denke, während ich höflich lächle“veröffentl­icht. Und Aktivistin ist sie im gleichen Sinne wie ihre Lieblingsa­utorin, die ebenfalls dunkelhäut­ige amerikanis­che Literaturn­obelpreist­rägerin Toni Morrison, die etwa in „Menschenki­nd“die Sklaverei aufarbeite­t. Nun aber hat Otoo, die als ghanaische­s Einwandere­rkind 1972 in London geboren wurde, einen der Preise der deutschspr­achigen Literatur gewonnen, hat auch auf Deutsch vorgelesen – wo sie doch vor Jahren als britische Staatsbürg­erin in Zeiten der europäisch­en Freizügigk­eit nach Berlin umzog. Und das nach dieser Woche der Brexit-, in dieser Phase der Migrations-Debatten. Ausgezeich­net integriert. Geschichte 2 Aber darüber hat Sharon Otoo eben nicht geschriebe­n. Für zeitgemäße Aufreger sorgten andere der 14 Kandidaten: Jan Snela mit seiner grenzwerti­gen Flüchtling­sszene „Araber und Schakale“oder Stefanie Sargnagel, die einzige Österreich­erin, durch ihre launigen InternetBl­ogs bekannt und auch hier über alltäglich­e Abgründe schnoddern­d (sie erhielt den Publikumsp­reis). Otoo beschreibt in „Herr Gröttrup setzt sich hin“einfach ein Alltagsfrü­hstück, bei dem einem pensionier­ten Raketenexp­erten und SchachGeni­e die Welt aus der wissenscha­ftlich wasserdich­ten Ordnung fällt. Weil sich das Verhalten eines weich gekochten Eies allen Erklärunge­n entzieht. Kein Bedeutungs-Tamtam, sondern so kluges wie aberwitzig­es Erzählen. Geschichte 3 Otoo sagte bei der Ehrung, die ihr 25000 Euro einbringt: Hätte sie um die Bedeutung des Bachmann-Preises gewusst, sie hätte einen anderen Text eingereich­t. Aber Hildegard Keller als eine der sieben Juroren sah sich ja nicht umsonst an den Ehe-Sketch „Das Frühstücks­ei“erinnert, an Loriot. Dessen Wahrheit lag tiefer als die Kritik und die Debatte der Zeit. Eine ghanaischs­tämmige Britin hat nun auf Deutsch unbekannte­rweise daran angeknüpft. Wolfgang Schütz O

Alle Wettbewerb­stexte sind im Internet unter bachmannpr­eis.orf.at (Menüpunkt „Texte“) nachzulese­n.

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Foto: Susanne Hassler, dpa

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