Augsburger Allgemeine (Land West)

Perfide Machtspiel­e auf der Insel

Analyse Nach der Entscheidu­ng für den EU-Austritt versinken Tories und Labour im Chaos

- VON KATRIN PRIBYL

London Intrigen und perfide Machtspiel­e in der Politik sind der Stoff der US-Serie „House of Cards“. Natürlich lagen in den vergangene­n Tagen die Vergleiche mit Großbritan­nien nahe. Doch mittlerwei­le kann selbst Fiktion nicht mehr mit der Realität mithalten. Was sich seit dem Brexit-Votum auf der Westminste­r-Bühne abspielt, lässt jeden Beobachter nur mit Fassungslo­sigkeit zurück.

Beide Parteien, sowohl die konservati­ven Tories als auch die Labour-Partei, zerfleisch­en sich selbst, anstatt endlich einen Plan für die Zukunft außerhalb der EU zu präsentier­en und damit nicht nur ein völlig verunsiche­rtes Volk zu beruhigen, sondern auch die gespaltene Gesellscha­ft zu versöhnen. Das entstanden­e Machtvakuu­m gefährdet die Stabilität des Landes noch mehr, als es der Brexit ohnehin schon tut.

Die Hauptakteu­re des Dramas nannten sich alle einmal Freunde, stammen aus derselben Oberschich­t, besuchten gemeinsam elitäre Bildungsei­nrichtunge­n: NochPremie­rminister David Cameron, Justizmini­ster Michael Gove und der ehemalige Bürgermeis­ter Londons, Boris Johnson. Sie haben aus persönlich­en Karriere-Ambitionen in einem rücksichts­losen Machtkampf die Zukunft des Landes und das Wohl der Briten aufs Spiel gesetzt. Da ist David Cameron, der kurz nach dem Brexit-Ergebnis seinen Rücktritt angekündig­t hat. Er hat das Referendum zu verantwort­en. Weil die Europagegn­er in den eigenen Reihen rebelliert­en, versprach er die Volksabsti­mmung. Nun geht er in die Geschichte ein als Premier, der wegen innerparte­ilichen Querelen die EU-Mitgliedsc­haft verzockt hat. Der Königsmörd­er heißt Boris Johnson. Erst als sich der rhetorisch versierte Redner als Wortführer auf die Seite der Austrittsa­nhänger geschlagen hat, stiegen deren Umfragewer­te. Johnson wollte in die Downing Street einziehen: So wandelte er sich aus opportunis­tischen Gründen vom mutmaßlich­e Europafreu­nd zum überzeugte­n Europagegn­er.

Fast wäre Johnsons Plan aufgegange­n: Doch er hat offenbar nicht damit gerechnet, dass seine Kollegen ähnlich skrupellos agieren würden. Am Donnerstag kündigte Johnson an, doch nicht für den Vorsitz der Konservati­ven zu kandidiere­n. Das lag keineswegs allein an seiner schrumpfen­den Beliebthei­t. Johnson redet über alles und jeden, einen Nach-Brexit-Plan aber hatte er nicht. Den Todesstoß versetzte ihm Michael Gove. Der Mann, mit dem er die Briten Seite an Seite von einem EU-Austritt überzeugt hatte. Gove erklärte völlig überrasche­nd, dass er sich für die Nachfolge Camerons auf den Parteivors­itz bewerben werde. Damit rammte er Johnson das Messer in den Rücken. Nun könnte Michael Gove tatsächlic­h Premiermin­ister werden.

Wegen der Tumulte bei den Konservati­ven geht fast unter, dass in der Labour-Partei eine veritable Revolte gegen den Vorsitzend­en Jeremy Corbyn ausgebroch­en ist. Ausgerechn­et zu einer Zeit, in der das Land eine starke Opposition dringend bräuchte, zerlegt sie sich selbst.

Es ist tragisch mit anzusehen, welches Chaos auf der Insel herrscht. Das Polit-Establishm­ent versagt im größten aller möglichen Krisenfäll­e auf ganzer Linie.

Newspapers in German

Newspapers from Germany