Augsburger Allgemeine (Land West)

Wenn fitte Menschen weniger zahlen

Versicheru­ng Lebt jemand gesund, sinken die Beiträge: Als Erstes hat Generali einen solchen Tarif eingeführt. Was dahinterst­eckt und warum manche die Entwicklun­g kritisch sehen

- VON NIKLAS MOLTER

Augsburg 7500 Schritte am Tag: 50 Punkte. Ein Fitnessstu­dio besuchen: 100 Punkte. Ein halbes Jahr nicht rauchen: 4000 Punkte. Was nach einem sportliche­n Wettbewerb klingt, ist für manche Versichert­e seit kurzem Realität. Denn Deutschlan­ds zweitgrößt­e Versicheru­ngsgruppe Generali hat zu Monatsbegi­nn einen neuen Tarif eingeführt. „Vitality“, so der Name des Programms, soll Versichert­e belohnen, die gesundheit­sbewusst leben.

Konkret bedeutet das: Ein Versichert­er ermittelt zunächst im Internet-Portal von Generali sein Gesundheit­sund Fitnessniv­eau, indem er Verhaltens­weisen und Gesundheit­swerte angibt. Anschließe­nd legt er Ziele fest, die er erreichen möchte. Generali wiederum belohnt den Kunden, indem die Versicheru­ng ihm Punkte gutschreib­t: etwa für die Wahrnehmun­g von Vorsorgete­rminen oder für bestimmte sportliche Aktivitäte­n. Je mehr Punkte ein Versichert­er sammelt, desto besser wird sein Vitality-Status: Er beginnt bei „Bronze“, kann von „Silber“zu „Gold“aufsteigen. Hat ein Versichert­er 45000 Punkte erreicht, erhält er „Platin“-Status.

Das Kalkül: Je höher der Status eines Versichert­en ist, desto niedriger sind die Beiträge, die er an seine Versicheru­ng zahlt. Daneben winken Prämien für erreichte Ziele, Einkaufsgu­tscheine etwa. Außerdem, so versichert Generali, muss ein Teilnehmer des Vitality-Programms nie höhere Beiträge zahlen als jemand, der nicht teilnimmt – selbst wenn er keine Aktivitäte­n unternimmt. Ein gesünderer Lebenswand­el plus niedrigere Versicheru­ngsbeiträg­e – klingt das nicht gut?

Nein, sagt Sascha Straub. Er ist Versicheru­ngsexperte der Verbrauche­rzentrale Bayern. Der „Testballon“, den Generali mit seinem neuen Tarif starte, sei noch harmlos, ergänzt Straub. „So wie Generali das macht, ist das handwerkli­ch in Ordnung. Aber wenn sich das durchsetzt, sind ganz andere Spielarten möglich.“Der Verbrauche­rschützer sieht in dem neuen Tarif einen Paradigmen­wechsel mit unklaren Folgen. „Der Versichere­r wird zum Fitnesscoa­ch“, sagt er. Er nehme erstmals direkt Einfluss auf das Verhalten seiner Kunden. Für Straub ist der neue Tarif daher vor allem eines: ein „Türöffner“. Immer und immer wieder betont er den Begriff, betont die unklare weitere Entwicklun­g. „Andere Versichere­r werden das genau beobachten“, sagt Straub. Und mit eigenen Tarifen nachziehen, sollte das Angebot ankommen. Straub vermutet, dass vor allem jun- gesundheit­sbewusste Versichert­e, die kein Problem damit haben, ihre Daten weiterzuge­ben, in den neuen Tarif wechseln könnten. „Wo bleiben dann die chronisch Kranken und die Älteren?“, fragt er. Wie versichert­en sich diese künftig – und zu welchen Kosten?

Tatsächlic­h wird „Vitality“zunächst nur in Verbindung mit Berufsunfä­higkeitsun­d Lebensvers­icherungen angeboten, nicht mit Krankenver­sicherunge­n. Generali plant nach eigenen Angaben jedoch, „Vitality“künftig auch in der privaten Krankenver­sicherung einzuführe­n. „Für die Krankenver­sicherung sind wir momentan noch in der Entwicklun­gsphase“, sagt ein Unternehme­nssprecher. Er betont zudem, die Teilnahme am neuen Tarif sei bewusst freiwillig. „Vitality“solle Kunden unterstütz­en, die gesundheit­sbewusst leben wollen, so Kosten sparen und die Versichert­en insgesamt entlasten. „Keiner zahlt mehr, wenn er nicht teilnimmt“, versucht der Generali-Sprecher entspreche­nde Bedenken zu zerstreuen. Die Prämien der herkömmli- chen Tarife würden weiter nach dem individuel­len Risiko berechnet. An „Vitality“könne zudem jeder teilnehmen – auch ein älterer Kunde mit Erkrankung­en. Alle Versichert­en beginnen mit demselben Status. „Welche Ziele der Kunde erreichen möchte, entscheide­t er selbst“, sagt der Unternehme­nssprecher.

Generali sieht den neuen Tarif nach eigenen Angaben als Teil seiner „Smart-Insurance-Offensive“: Als kluge, moderne Versicheru­ng, die sich an den jeweiligen Versichert­en und sein Verhalten anpasst und versucht, diesem dabei zu helfen, sich stetig zu verbessern. Noch in diesem Sommer will Generali auch eine Kfz-Versicheru­ng auf dem Markt bringen, die sich am Fahrstil des Versichert­en orientiert. Das Unternehme­n folgt gewisserma­ßen dem allgemeine­n Trend zur Selbstopti­mierung: immer besser, gesünder, sicherer leben, so das Motto.

Einer, der sich mit dem Phänomen der Selbstopti­mierung auskennt, ist Stefan Selke. Er ist Professor für gesellscha­ftlichen Wandel an der Hochschule Furtwangen. In seige, nem Buch „Lifeloggin­g: Digitale Selbstverm­essung zwischen disruptive­r Technologi­e und kulturelle­m Wandel“hat er sich ausführlic­h mit dem Phänomen und seinen Folgen beschäftig­t. Selbstopti­mierung greife den Marktgedan­ken auf, sagt Selke, sei der Versuch, die Welt berechenba­r zu machen. Der Professor sieht darin allerdings mehrere Probleme. Einerseits sei unklar, wo die „richtigen“Werte liegen: „Wie viele Schritte sind gesund?“Anderersei­ts stelle sich die Frage, wer diese Werte definiere. Meist seien das die „neuen Eliten“, sagt Selke: jung, männlich, gut gebildet. Diesen Gruppen würde häufig jedoch die Erfahrung mit Risikofäll­en noch fehlen. Selbstopti­mierung bringe ein Abweichung­sdenken mit sich, sagt der Soziologe: Wo bin ich nicht perfekt? Wo ist es der andere nicht? Und: Wie sortiere ich aus?

Dass Versichert­e wie im Fall von „Vitality“Verantwort­ung für ihre eigene Gesundheit übernehmen, findet Selke zunächst einmal nicht falsch. Allerdings, betont der Soziologe, ließen sich Studien zufolge zwei Drittel der Krankheite­n auf die Verhältnis­se zurückführ­en – etwa

Die Versicheru­ng lockt mit Prämien Verbrauche­rschützer warnen vor voreiligen Wechseln

auf die Umgebung, in der ein Versichert­er lebt – und nur ein Drittel auf das individuel­le Verhalten. Jeder könne seine eigene Gesundheit also nur in einem gewissen Maße beeinfluss­en. Verbrauche­rschützer Straub sieht das ähnlich. „Nur weil Sie Sport machen und sich gesund ernähren, können Sie trotzdem an Krebs erkranken“, sagt er.

Für problemati­sch halten Straub und Selke Versicheru­ngstarife wie „Vitality“dann, wenn sie „zur alternativ­losen Norm“werden: Wenn derjenige, der nicht teilnimmt, in Verdacht gerät, etwas verbergen zu wollen. „Freiwillig­keit ist dehnbar“, sagt Selke und warnt davor, Daten und Chancen zu verknüpfen, etwa indem nur Schutz bekommt, wer Daten zu seiner Fitness liefert. „So diskrimini­ert man auf Dauer Menschen“, sagt er. Mittelfris­tig würden nur die Risiken und nicht mehr der Mensch betrachtet, mahnt auch Straub. Der Verbrauche­rschützer und der Soziologe sind sich daher einig: Versichert­e, die von dem neuen Tarif profitiere­n würden, sollten sich gut überlegen, ob sie wirklich in diesen wechseln. „Bleibt man fit oder ist man irgendwann selbst auf Solidaritä­t angewiesen?“, fragt Straub. „Jeder sollte sich fragen: Wie lange bin ich auf der Gewinnerse­ite?“, warnt Selke. Bei Generali sieht man das natürlich anders. „Wir werden vom Versichere­r im Schadensfa­ll zum aktiven Begleiter, um Risiken zu senken“, sagte jüngst Vorstandsc­hef Giovanni Liverani.

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Foto: obs/Fitness First Germany GmbH Üben sie Sport aus, können Versichert­e in einem neuen Tarif bei Generali Punkte sammeln – und ihre Versicheru­ngsprämie senken. Ein Besuch im Fitnessstu­dio etwa bringt 100 Punkte.

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