Augsburger Allgemeine (Land West)
Erich Hackl – Familie Salzmann (19)
EGraz, in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Hanno Salzmann verliert seinen Arbeitsplatz, weil er beiläufig einmal erzählte, dass seine Großmutter im KZ umkam. Eine wahre Geschichte. Erich Hackl: Familie Salzmann, © Diogenes, 186 Seiten, 9,90 ¤
r beugte sich zum Loch und stellte Fragen, woher sie kämen und wieso man sie in diesen Transport gesteckt habe.
Wir sind Frankfurterinnen. Die haben uns holen lassen, als Zeugen in einem Prozeß, gegen eine Frau. Sie soll in ihrer Wirtschaft abfällige Bemerkungen über Hitler geduldet haben. Jetzt bringen sie uns wieder zurück. Zurück wohin? Nach Ravensbrück. Und du? Salzmann antwortete nicht gleich. Einmal, weil es ihm die Rede verschlug, mehr noch, weil er plötzlich mißtrauisch wurde. Das muntere Lachen vorhin, und daß man jemand aus einem KZ holt und mitten im Krieg durch halb Deutschland schleppt, wegen eines Gerichtsverfahrens, dessen Ausgang von vornherein feststand. Als lebte man in einem Rechtsstaat. Er hätte die Frauen nebenan gern zu Gesicht bekommen. Aber so mußte er sich darauf verlassen, daß sie nicht als Lockvögel eingesetzt wurden. Die Antwort
der einen auf seine Frage, ob Ravensbrück ein großes Lager sei, bestürzte ihn.
Und ob, sagte sie. Wir sind zu Tausenden dort. Fast nur Frauen und Kinder. Wie, nur Frauen und Kinder. Sie schwiegen, und er richtete sich auf. Die beiden Franzosen merkten ihm die Erschütterung an und schwiegen ebenfalls. Dann setzte sich der Ältere neben ihn auf die Bank und drückte ihm die Hand. Courage, camarade. Aber der Zuspruch war ihm keine Erlösung. Nach einigen Minuten klopfte er nochmals.
In Ravensbrück, habt ihr dort zufällig Juliana Salzmann kennengelernt. Anfang dreißig, stammt aus Österreich, hat zuletzt in Frankreich gelebt.
Er wiederholte den Namen. Er hörte, wie die beiden Frauen miteinander tuschelten. Dann wieder die Stimme der einen: Bist du noch da? Juliana. Meine Freundin sagt, in Block 1 liegt sie.
Wie geht es ihr, ist sie gesund, habt ihr zu essen? Das waren die Fragen, die sich ihm aufdrängten. Er stellte sie nicht; er flüsterte: Grüßt sie von ihrem Mann. Sagt ihr, daß ich zum Volksgerichtshof nach Berlin komme. Sie darf nicht den Mut verlieren, wir werden uns wiedersehn, sicher.
In Hugos Leben wäre vieles anders gekommen: wenn sein Vater ihn je beiseite genommen hätte. Sechs, acht oder zehn Jahre später, als alles vorüber und doch nicht zu Ende war. Wenn er zu ihm gesagt hätte, jetzt will ich dir mal erzählen, wie es mir ergangen ist. Damit du manches begreifst. Die Ungeduld, die Härte, die Reizbarkeit. Man nimmt ja auch Schaden. Wenn er ihn beispielsweise durch das Gerichtsgebäude in der Bellevuestraße geführt hätte, das nur noch in seinen Alpträumen existierte, seit es, im Februar fünfundvierzig, bei einem Luftangriff auf Berlin zerstört worden war. Durch das Labyrinth aus unterirdischen Gängen, Treppen und Kammern, vorbei an einer langen Reihe aneinandergeschweißter Spinde, in denen nicht Kleider, sondern Menschen steckten (Verurteilte, die bis zum Abtransport nach Plötzensee hier aufbewahrt wurden), hinauf in den Verhandlungstrakt, hinein in den Saal, auf die Anklagebank, die keine richtige Bank war, eher eine Art Koben auf einem Podium und mit einem Sitzbrett an der Rückseite. Wenn er ihm gezeigt hätte, wie der Reihe nach der Offizialverteidiger, der Staatsanwalt und ein Mann in Straßenkleidung, mit einer Mappe unter dem Arm den Gerichtssaal betraten. Den Einzug der Richter und Beisitzer (zwei in roten Roben, einer in der Uniform eines SA-Brigadeführers, einer in der eines Generalarbeitsführers, einer in Zivil, mit Parteiabzeichen auf dem Revers). Wenn er seine Beklemmung beim Anblick des Vorsitzenden mit ihm geteilt hätte: hagere Gestalt, schmaler Schädel mit Halbglatze, scharf geschnittene Nase. (Er glaubte im ersten Moment, Roland Freisler vor sich zu haben, den er von Fotos her kannte, die in der ,Roten Fahne‘ erschienen waren, aber laut Urteilsschrift handelte es sich um den Senatspräsidenten Kurt Albrecht.) Wenn also, und wie. Wenn er ihm zugemutet hätte, ihn anzuhören. Wie Albrecht ihn aufforderte, dem Gericht seinen Lebensweg zu schildern. Wie er plötzlich von einer inneren Ruhe erfaßt wurde und mit kräftiger Stimme, sachlich und vehement zugleich, zu sprechen begann: von Not und Entbehrung im Elternhaus, Fronteinsatz des Vaters, Krankheit und frühem Tod der Mutter, Eintreten für die Arbeitskollegen, Bemühen um die Erwerbslosen. Wie er seine Empörung über die gnadenlosen Bestimmungen des Friedensvertrages und seinen Protest gegen die Besetzung des Ruhrgebiets in die Rede einflocht. Wie es ihm gar nicht schwer fiel, die Schnittmenge zu treffen von dem, was er getan hatte und was die Nazis unter Idealismus verstanden. (Uneigennützig, darauf lief seine Selbstdarstellung hinaus. Dann sagte er noch: Ich bin nicht schuldig.) Wie Albrecht keine Miene verzog, in seinen Akten blätterte, ihnen zwei kleinformatige Zeitungen entnahm, die er an die Beisitzer weiterreichte, wieder einholte, hochhielt. (Er wußte gleich, um welche Blätter es sich handelte, schließlich war jede Ausgabe durch seine Hände gegangen.) Wie Albrecht ihn beschuldigte, diese Schriften nach dem Reich verschickt zu haben, an verdienstvolle Funktionäre in Bad Kreuznach, deren Adressen nur er kennen konnte, der Angeklagte Salzmann, Schriften, die gegen den Führer hetzten, diesen als Mörder schmähten, zum Sturz der deutschen Staatsführung aufriefen. Wie Albrechts schnarrende Stimme immer lauter wurde, sich schließlich überschlug: Das ist Vorbereitung zum Hochverrat, hier sind die Beweise, bekennen Sie sich schuldig! Wie er entschieden bestritt, diese Zeitungen nach Deutschland verschickt zu haben. Wie Albrecht die Anschuldigung wiederholte und wie er sie erneut zurückwies: Wenn ich schwören dürfte, Herr Präsident, ich habe nicht …, worauf Albrecht nach seinen Akten griff, aufstand und verkündete, daß die Verhandlung unterbrochen werde. Wie die Richter und Beisitzer den Saal verließen.
Wie er in ihrer Abwesenheit vergeblich auf ein Wort seines Anwalts wartete, aufmunternd oder warnend, wie dieser Dr. Feldmann überhaupt die ganze Zeit geschwiegen, ihn nicht einmal mit einem Blick bedacht hat. (Am Abend davor hatte er ihn in seiner Zelle in Moabit aufgesucht: Sagen Sie mir nichts, was Sie belasten könnte, ich müßte es der Gestapo melden. Weinen Sie nicht während der Verhandlung.) Wie er krampfhaft überlegte, was Albrecht gegen ihn noch in der Hand hatte, und dabei an seinen Genossen Fried Hey dachte, der ihm auf dem Weg zum Gerichtssaal, im breiten Korridor nach dem letzten Treppenabsatz, begegnet war. In Ketten, und mit einem Flackern in den Augen. (Den Bergmann Friedrich Hey aus Dudweiler, der in Paris für die Verteilung der Spendengelder, dann für die Emigrantenküche zuständig war.)
»20. Fortsetzung folgt