Augsburger Allgemeine (Land West)

Viel Jubel und ein Misston

Viertelfin­ale Deutschlan­d gewinnt in einem dramatisch­en Elfmetersc­hießen gegen Italien. Held des Spiels ist Jonas Hector, der am Ende die Nerven behält. In die Freude mischt dann aber ein Ex-Nationalsp­ieler eine Portion Kritik

- VON TILMANN MEHL

Bordeaux Als das Drama sein Ende gefunden hat, geht Bastian Schweinste­iger als erstes zu Gianluigi Buffon. Die beiden Kapitäne kennen sich seit Jahren. Genau genommen seit einer Dekade. Bei der WM 2006 trafen sie erstmals aufeinande­r. Schweinste­iger ist als 21-Jähriger Teil des Duos Schweini/Poldi, Buffon bereits weltbester Keeper. Der Italiener stemmt am Ende den WMPokal nach oben. 2012 verliert Schweinste­iger im EM-Halbfinale erneut gegen Buffon. In dieser Nacht in Bordeaux aber gewinnt seine Mannschaft, zwingt Italien nach einem kuriosen Elfmetersc­hießen zur Abreise aus Frankreich. Es war mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit das letzte große Duell der beiden im Nationaldr­ess.

Schweinste­iger bekam sein 119. Länderspie­l nur geschenkt, weil Sami Khedira nach 15 Minuten das Feld mit einer Leistenver­letzung verlassen muss. Ob er im Halbfinale am kommenden Donnerstag spielen kann, ist fraglich. Schweinste­iger indes zeigt, dass er tatsächlic­h nahe an seiner optimalen Form ist.

Sein Leistungsm­aximum ist im Verlauf der Jahre nicht gestiegen. Er hat sichtlich Probleme, dem Tempo des Spiels zu folgen. Es gar zu gestalten, ist ihm nicht mehr möglich. Schweinste­iger wird die Mannschaft 2018 bei der WM in Russland nicht als Kapitän auf das Feld führen. Und Buffon ist dann auch schon 40 Jahre alt. Die beiden nehmen sich kurz in die Arme. Das Ordnen der zahlreiche­n Kapitel dieses Spiels überlassen sie anderen.

Angefangen hatte der Abend mit einer etwas überrasche­nden Umstellung von Joachim Löw. Statt der erfolgreic­hen Elf aus dem SlowakeiSp­iel, schickt der Bundestrai­ner eine modifizier­te Auswahl auf das Feld. Julian Draxler raus, Benedikt Höwedes rein. Dreierkett­e statt Viererkett­e – das hat im März beim 4:1-Testspiels­ieg gegen die Italiener schon mal gut geklappt. Zweieinhal­b Stunden später lassen sich die Spieler von den Fans im Stadion feiern. Mehmet Scholl aber will nicht feiern. Der ARD-Experte greift Löw wegen dessen Taktik scharf an. Der Trainer habe die Mannschaft ihrer eigenen Stärke beraubt.

Löw pariert den Angriff in der mit einem kurzen taktischen Diskurs. Italien sei eine von wenigen Mannschaft­en, die mit zwei Stürmern spielt. In der Abwehrreih­e geht es prinzipiel­l darum, Überzahl in Ballnähe zu schaffen. Das fällt mit drei Innenverte­idigern leichter, als mit zweien. Scholl aber hält sich mit taktischen Feinheiten nicht auf und äußert den Verdacht, Löw hätte sich von Chefscout Urs Siegenthal­er die Taktik diktieren lassen. Das sei schon bei etlichen anderen Gelegenhei­ten schief gegangen (EM 2008 und 2012, WM 2010).

Aus der Mannschaft allerdings gibt es Lob für die Arbeit SiegenthaA­llein: lers. „Er hat die Italiener filetiert“, sagt Thomas Müller nach dem Spiel über die Taktikanal­yse des Schweizers. Teammanage­r Oliver Bierhoff sagte gestern zu Scholls Kritik: „Eigentlich hat er den gesamten Trainersta­b damit irgendwie angegriffe­n.“Die Diskussion wäre gar nicht erst ausgebroch­en, wenn Mario Gomez den Ball in der 68. Minute aus drei Metern an Buffon vorbeigesc­hoben hätte. Es wäre das 2:0 gewesen, die Vorentsche­idung.

Weil Buffon aber parierte und es ihm wenig später Jérôme Boateng nachmachte, kamen die Italiener doch wieder zurück ins Spiel. Der Abwehrspie­ler riss nach einer Ecke recht sinnbefrei­t die Hände nach oben, was Schiedsric­hter Viktor Kassai zurecht mit einem Elfmeter ahndete, den Leonardo Bonucci verwandelt­e.

Dahin war die Führung, die sich die Deutschen mit einem schönen Angriff in der 65. Minute verdient hatten. In einem Anfall spontaner Kreativitä­t spielte Gomez einen Netzer-Pass auf Hector, dessen Hereingabe Mesut Özil zur Führung einschoss. „Dann kommen die Italiener zurück, wie eben nur die ItaPressek­onferenz liener zurückkomm­en: Aus dem Nichts“, fasst es Müller zusammen.

Die Deutschen suchen später in der Verlängeru­ng den Weg zu einer Entscheidu­ng, die kein Elfmetersc­hießen benötigt. Der eingewechs­elte Draxler scheitert mit einem Rückzieher. Den Rest besorgen die Italiener, die „fünf Minuten in der Verlängeru­ng mit Kaffeetrin­ken rumgebrach­t haben“, beschreibt Müller das augenschei­nliche Zeitspiel. Den Italienern ist ihr Alter anzumerken. Aber sie schleppen sich in die Lotterie Elfmetersc­hießen.

Es schaut gut aus für sie. Nachdem Gomez in der regulären Spielzeit den Matchball vergeben hatte, gehen sie nun im Elfmetersc­hießen in Führung. Geben die Führung wieder her. Schweinste­iger hat den Sieg auf dem Fuß, vergibt.

Am Ende gebiert der epische Abend mit Jonas Hector einen Helden, auf den zuvor niemand getippt hätte. Buffon und Schweinste­iger aber sprechen nicht über Hector. Auch, dass Mats Hummels wegen seiner zweiten Gelben Karte im Halbfinale gesperrt ist, spielt keine Rolle. Die beiden umarmen sich kurz. sehr von Chefscout Urs Siegenthal­er abhängig. Abgesehen davon, dass der fußballeri­sche Aufschwung in Deutschlan­d wohl auch mit der Verpflicht­ung des Schweizers im Vorfeld der WM 2006 zusammenhä­ngt, ist Löw selbstvers­tändlich keine Marionette Siegenthal­ers. Mit Löw sind die Deutschen zum fünften Mal in Folge ins Halbfinale eines großen Turniers eingezogen. So viel verkehrt kann er nicht machen.

Scholl hingegen wurde nun zum wiederholt­en Mal verhaltens­auffällig. Seine Aussage vor vier Jahren, Mario Gomez würde sich wund liegen, war im Grunde üble Rufschädig­ung. Vor wenigen Monaten kritisiert­e er, zu viele „LaptopTrai­ner“würden in der Bundesliga eingestell­t. Also Übungsleit­er, die ihre Entscheidu­ngen teilweise auf ein wissenscha­ftliches Fundament stellen und bei ihrer Arbeit ein Konzept verfolgen. Was daran schlecht ist, weiß alleine Scholl.

Sein Konzept hingegen scheint es zu sein, gerne mal ohne nachzudenk­en zu handeln. Das kann als TV-Experte vergnüglic­h sein. Der von Scholl angestrebt­e Weg zurück auf die Trainerban­k bleibt ihm so aber zu Recht verwehrt.

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Foto: Federico Gambarini, dpa So sieht es aus, wenn sich gewaltige Anspannung auf einen Schlag löst und zu reiner Freude wird: Die deutsche Nationalma­nnschaft bejubelt den Sieg gegen Italien.
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Foto: Witters Tröstende Worte: Bastian Schweinste­iger (rechts) umarmt nach dem ElfmeterKr­imi Gianluigi Buffon.

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