Augsburger Allgemeine (Land West)

Wer war der bessere Linke: Grass oder Brecht?

Geschichte Wie eine linke Studentenz­eitschrift die beiden Autoren gewagt gegeneinan­der ausspielte

- VON JÜRGEN HILLESHEIM

2016 jährt sich zum hundertste­n Mal Erstaunlic­hes, versehen mit reichlich Lokalkolor­it. 1916 nämlich schrieb Brecht als Schüler jene kritisch-unverschäm­te Interpreta­tion des Horaz-Verses „Dulce et decorum est pro patria mori“, der ihm fast den Schulverwe­is einbringen sollte. Dieses Zeugnis eines neuen Selbstbewu­sstseins jedoch ist das Ergebnis von wesentlich Wichtigere­m: Brecht verfasste 1916 auch die beiden Gedichte „Vom Tod im Wald“und „Das Lied von der Eisenbahnt­ruppe von Fort Donald“, beide von literarisc­h so herausrage­nder Qualität, dass er sie später in seine berühmte Lyriksamml­ung „Die Hauspostil­le“aufnehmen sollte. Mit anderen Worten: 1916 wurde Brecht zu Brecht, zu dem Autor, der bald Weltruhm erlangen sollte und der sich bereits da einiges trauen konnte.

Das ist Grund genug zur Freude, besonders in Augsburg, es verstellt jedoch den Blick auf ein erstes Jubiläum, 1966, auf eine sehr besondere Art der Brecht-Rezeption, zehn Jahre nach seinem Tod. Er geriet nämlich zwischen die Fronten von eigenem politische­n Taktieren, literarisc­her Kritik und Vereinnahm­ung durch Kräfte, die bald in Form der APO und, noch später, des RAF-Terrorismu­s den Alltag der Bundesrepu­blik prägen sollten.

Am 15. Januar 1966 fand am Berliner Schillerth­eater die Uraufführu­ng des „deutschen Trauerspie­ls“Die Plebejer proben den Aufstand von Günter Grass statt. Der damals SPD-nahe Autor zeichnet Brecht, der sich hinter der Figur des „Chefs“verbirgt, während des Aufstands vom 17. Juni 1953 als unwillig, in der revolution­ären Situation Position zu ergreifen. Stattdesse­n versteckt er sich hinter selbstverl­iebten Floskeln und ästhetisch­en Positionen. Grass zielt damit auch auf Brechts Lavieren den Kulturfunk­tionären der DDR gegenüber, etwa die Bereitscha­ft, seine und Paul Dessaus Oper „Das Verhör des Lukullus“sofort umzuarbeit­en, als es Kritik seitens der Staatsvert­reter gab. Marcel Reich-Ranicki verriss Grass’ Stück am 21. Januar 1966 in der Zeit, er räumt aber ein, dass die „Grundsitua­tion“von Grass „meisterhaf­t entworfen“sei, er jedoch deren Potenzial verschenke.

Die Angelegenh­eit rief, heute in Vergessenh­eit geraten, die Zeitschrif­t „konkret“auf den Plan, in der daraus eine Titelstory gemacht wurde. „Konkret“, von dem Journalist­en Klaus Rainer Röhl gegründet, war eine linke Studentenz­eitschrift, die in ihrer Hochphase der 68er-Revolte Leser weit über die Studentens­chaft hinaus erreichte. Mitfinanzi­ert wurde sie von der DDR. Röhl und seine Ehefrau, Ulrike Meinhof, die später wegen Beteiligun­g an Mordanschl­ägen verurteilt­e Top-Terroristi­n der RAF und zeitweise „konkret“-Chefredakt­eurin, reisten öfters in die DDR, um sich instruiere­n zu lassen; auch erfolgten in der Bundesrepu­blik Weisungen durch die damals illegale KPD. Hin und wieder veröffent- lichte „konkret“DDR-kritische Beiträge, was letztlich dazu führte, dass Zahlungen aus der DDR ausblieben. Das kompensier­te man teilweise durch sexuelle Themen, die die Auflagenza­hl steigern sollten.

Das Februar-Heft 1966, für das die in dieser Zeit noch nicht radikalisi­erte Meinhof den Leitartike­l schrieb, bemächtigt­e sich der Causa „Grass – Brecht“. Der 2. Akt des Dramas von Grass wurde komplett abgedruckt, und Röhl schrieb dazu unter dem Titel „War Brecht Sozialdemo­krat?“einen Beitrag. Er kritisiert Brechts Charakteri­sierung durch Grass, indem er diesem unterstell­t, in die Rolle Brechts zu schlüpfen, den Aufstand vom 17. Juni also durch die Brille der Sozialdemo­kratie, der DDR noch verhasster als die Unions-Parteien, zu sehen: „So macht Grass sich einen eigenen 17. Juni zurecht, […] es war ein sozialdemo­kratischer Putsch, und wär´ er geglückt, wär´ Willy heute Kanzler.“Und weiter, in DDR-gesteuerte­r Diktion: „Sozialdemo­kraten machen keine Revolution­en, […] sie laufen immer nur mit. Aufstände machen Kommuniste­n.“Und ein solcher sei Brecht zweifellos gewesen und damit eine potenziell­e Ikone für die Studentenb­ewegung. Grass Vorwurf des Lavierens seitens Brechts ignoriert Röhl.

Die APO wollte sich später tatsächlic­h immer wieder mit BrechtZita­ten legitimier­en oder sich dessen Autorität versichern. Röhl hingegen machte einen Wandel durch: 1995 trat er der FDP bei.

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Foto: Hillesheim Grass und Brecht in der Titelgesch­ichte der linken Studentenz­eitschrift „konkret“. Das Heft erschien im Februar 1966.

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