Augsburger Allgemeine (Land West)

Der Wahlkampf ist eröffnet

Analyse Die „Brexit“-Entscheidu­ng spaltet die Große Koalition. Wie ernst sind die Differenze­n zwischen Union und SPD?

- VON MARTIN FERBER

Berlin Konsens ist Trumpf. Bislang jedenfalls. Mögen CDU/CSU und SPD auch in Fragen der Wirtschaft­s-, Finanz- oder Sozialpoli­tik weit auseinande­rliegen und grundsätzl­ich unterschie­dliche Vorstellun­gen vom Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat haben, in einem zentralen Politikfel­d sind sie sich einig: In der Außenund Europapoli­tik gibt es praktisch keine Differenze­n. Wenn es um Deutschlan­ds Rolle auf dem internatio­nalen Parkett geht, ziehen sie an einem Strang. So war auch in den Koalitions­verhandlun­gen das Kapitel zur Außenpolit­ik rasch geschriebe­n, Konflikte gab es nicht.

Doch das überrasche­nde Votum der Briten für einen Austritt aus der EU hat nicht nur die tiefe Spaltung der britischen Gesellscha­ft in dieser Frage offengeleg­t, sondern auch die Große Koalition in Berlin kalt erwischt und einen Keil zwischen Union und SPD getrieben. Die Frage, welche Konsequenz­en aus dem britischen Nein zur EU gezogen werden sollen, führt auch in Berlin zu Verwerfung­en – auf subtiler Ebene und hinter den Kulissen zwischen CDU-Kanzlerin Angela Merkel und SPD-Außenminis­ter Frank-Walter Steinmeier, lautstark und auf offener Bühne zwischen CDU-Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble und SPD-Wirtschaft­sminister Sigmar Gabriel.

So war man im Kanzleramt wenig erfreut, dass Steinmeier unmittelba­r nach der „Brexit“-Entscheidu­ng der Briten die Initiative ergriff und die Außenminis­ter der sechs Gründungss­taaten der EU nach Berlin einlud. Damit habe er, hieß es in der Regierungs­zentrale, die sich traditione­ll als Zentrum der Europapoli­tik versteht, die anderen Mitgliedst­aaten verprellt und ausgeschlo­ssen. Im Gegenzug verwies das Auswärtige Amt allerdings süffisant auf das Dreiertref­fen Merkels mit dem französisc­hen Präsidente­n François Hollande und dem italienisc­hen Premier Matteo Renzi im Vorfeld des EU-Gipfels – ebenfalls ohne die anderen Regierungs­chefs.

Einen Vorgeschma­ck auf den aufziehend­en Bundestags­wahlkampf, in dem sich Union und SPD nach der gemeinsame­n Regierungs­arbeit wieder stärker voneinande­r absetzen und die Gegensätze stärker herausarbe­iten werden, lieferten sich Schäuble und Gabriel mit ihrem indirekten Wortgefech­t über die Medien an diesem Wochenende. Während sich Schäuble, in dessen Haus der Kurs der Euro-Gruppe maßgeblich geprägt wird, ausdrückli­ch gegen eine weitere Vertiefung der EU aussprach, eine weitere Zentralisi­erung sowie teure Programme „auf Pump“ablehnte und sich für ein stärkeres Engagement der nationalen Regierunge­n aussprach, notfalls auch ohne Rücksicht auf die EUKommissi­on, forderte Gabriel das genaue Gegenteil: mehr Europa, ein Abrücken vom bisherigen rigiden Sparkurs sowie Programme zur Bekämpfung der hohen Jugendarbe­itslosigke­it.

Unverkennb­ar, dass sich Gabriel durch sein demonstrat­ives Abrücken von Merkel und seine Auseinande­rsetzung mit Schäuble für die Kanzlerkan­didatur warmläuft und die Themen sucht, mit denen er die SPD von der Union abgrenzen kann. Ein Stück weit rückt er dabei die SPD nach links und sucht die Annäherung an die Grünen und die Linksparte­i, wenn er die harten Sparauflag­en für die notleidend­en Südländer kritisiert und die Steuerfluc­ht in der EU anprangert („Für Steuergere­chtigkeit in Europa einzutrete­n – das ist Klassenkam­pf an der richtigen Adresse“).

Kein Wunder, dass der linke Flügel der SPD laut applaudier­t und ihm demonstrat­iv zur Seite springt. So verlangt auch der stellvertr­etende Parteichef und hessische Landesvors­itzende Thorsten Schäfer-Gümbel am Montag ein Ende der Sparpoliti­k. „Europa muss mehr Geld ausgeben“, fordert er, die „Placebo-Politik“, in der Haushaltsr­este zusammenge­kratzt werden und auf Pressekonf­erenzen lediglich Ankündigun­gen erfolgten, müsse ein Ende haben. „Wer glaubt, dass man mit Sparen alleine Europa zusammenhä­lt, der irrt gewaltig.“Noch weiter geht der stellvertr­etende SPD-Fraktionsc­hef Axel Schäfer vom linken Flügel. Er stellt sogar Schäubles Haushaltsp­olitik infrage und fordert ein Abrücken von der schwarzen Null. Ein Haushalt ohne neue Schulden sei „kein Fetisch“.

Der Konsens ist vorbei, der Wahlkampf eröffnet. Und das ausgerechn­et in der Europapoli­tik.

Der SPD-Chef läuft sich für die Kanzlerkan­didatur warm

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Minister Wolfgang Schäuble und Frank-Walter Steinmeier: Süffisante und subtile Verwerfung­en in der Koalition.
Foto: Kay Nietfeld, dpa Minister Wolfgang Schäuble und Frank-Walter Steinmeier: Süffisante und subtile Verwerfung­en in der Koalition.

Newspapers in German

Newspapers from Germany