Augsburger Allgemeine (Land West)
Erich Hackl – Familie Salzmann (20)
WGraz, in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Hanno Salzmann verliert seinen Arbeitsplatz, weil er beiläufig einmal erzählte, dass seine Großmutter im KZ umkam. Eine wahre Geschichte. Erich Hackl: Familie Salzmann, © Diogenes, 186 Seiten, 9,90 ¤
ie er befürchtete, daß dieser nun als Belastungszeuge gegen ihn aufgeboten werden würde, bei Fortgang der Verhandlung jedoch erkannte, daß es Albrecht allein darum ging, ihm nachzuweisen, daß er persönlich die Zeitungen an Kappel und Umbs verschickt hatte. Wie Albrecht sich nämlich an den Mann im Straßenanzug wandte, der vor Prozeßbeginn neben dem Staatsanwalt Platz genommen hatte, und ihn ersuchte, sein graphologisches Gutachten vorzubringen. Wie der Sachverständige sich erhob, einige Papiere zur Hand nahm, die Brille zurechtrückte und ausführte, daß er die Handschrift auf den Umschlägen eingehend mit den in Koblenz genommenen Schriftproben verglichen habe und dabei zu folgendem Ergebnis gekommen sei: Der Buchstabe B ist das typische B des Angeklagten. Der Buchstabe K unmöglich, ebensowenig das E und N. Das Z weist große Ähnlichkeiten mit dem des Angeklagten auf. Das S wiederum … Wie er das halbe Alphabet
durchging, dann die Papiere auf den Tisch zurücklegte, die Brille abnahm, sich räusperte, die Brille wieder aufsetzte. Wie er sagte, auf Grund mehrerer Übereinstimmungen, die sich durch unbewußt entstehende Schreibgewohnheiten ergäben, könne mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit behauptet werden, daß der Angeklagte persönlich den Umschlag beschriftet habe. Wie er sich erneut räusperte, endlich hinzufügte, daß sich aber ein lückenloser und objektiver Nachweis für die Täterschaft des Angeklagten infolge des geringen Ausgangsmaterials nicht erbringen lasse. Wie nach diesen Worten nur das Rascheln von Albrechts blutroter Robe zu hören war. Wie der Staatsanwalt das Wort ergriff und für den Angeklagten zehn Jahre Zuchthaus forderte. Wie sich das Gericht abermals zur Beratung zurückzog. Wie Albrecht, eine Viertelstunde später, das Urteil verkündete, im Namen des Deutschen Volkes, daß nämlich das von Staatsanwalt Dr. Bruchhaus beantragte Strafausmaß auf acht Jahre Zuchthaus herabgesetzt werde, weil der Angeklagte sich den Werbebemühungen der Französischen Fremdenlegion widersetzt und damit bewiesen habe, noch einen Funken Ehrgefühl zu besitzen. Wie er nicht wußte, ob aufatmen oder verzweifeln. (Sein erster Gedanke war: Acht Jahre Zuchthaus, das pack ich nie.) Wie sich der Saal im Handumdrehen leerte. Wie er allein zurückblieb, im Kabuff mit dem angeschraubten Sitzbrett. Wie ihn nach einigen Minuten zwei Gestapomänner holen kamen. Wie sich vorher noch der Gerichtsdiener in seiner Nähe zu schaffen machte, ihm dabei zuflüsterte: Der Krieg dauert keine zwei Jahre mehr.
Hugos Leben wäre wirklich anders verlaufen, glaube ich. Wenn sein Vater sich bloß die Zeit genommen hätte, ihm zu erzählen. Etwa davon, wie sehr ihn die beiden Jahre zwischen Verurteilung und Befreiung noch zermürbt haben. Wenn er an das gerührt hätte, was vielleicht am meisten weh tat: an die Erinnerung an eine mondhelle Nacht in Butzbach, in der er auf seiner Pritsche lag und das Schattenmuster betrachtete, das die Gitterstäbe an die Wand warfen. Am 5. und 6. Dezember 1944, vor und nach Mitternacht. Er fand lange keinen Schlaf, weil ihn die Backenknochen, die Rippen, die Beine, das Kreuz, der Magen schmerzten, und weil er vor Kälte zitterte. Sooft er sich herumwälzte, konnte er im Zwielicht die Umrisse seiner Zellengenossen Kaspar Göb und Otto Renner erkennen, die sich das Stockbett neben ihm teilten. Salzmann war froh über ihre Gesellschaft. Göb verströmte Zuversicht, Renner war bedächtig. Der eine hatte für untergetauchte Juden und Deserteure Lebensmittelkarten gefälscht und war deshalb zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Den andern hatte man schon im Sommer dreiunddreißig wegen staatsfeindlicher Umtriebe festgenommen. Im KZ Esterwegen hatte ihn ein Aufseher mit dem Gewehrkolben krumm geschlagen, seither plagten ihn ständige Rückenschmerzen. Aber jetzt ging sein Atem regelmäßig. Salzmann versuchte, den Rhythmus anzunehmen. Schon im Halbschlaf hörte er seinen Namen rufen. Er richtete sich auf und blickte hinüber zu Göb, hinauf zu Renner. Sie rührten sich nicht, er mußte sich getäuscht haben. Er dachte an den kommenden Tag, die Arbeit in der Maschinenhalle nebenan, wo er Durchmesser und Außenrand der Zünderköpfe zu prüfen hatte, die von Häftlingen und Zivilarbeitern an Revolverbänken gefertigt wurden. An den Ausschuß, und wie lange sich die hohe Quote vor der Kontrolle noch rechtfertigen ließ. Darüber schlief er ein. Aber wie es Erschöpften für gewöhnlich ergeht, schlief er weder tief noch lang. Wieder meinte er eine Stimme zu hören, die ihn beim Namen rief, lauter und flehender als vorhin. Er fuhr hoch, stützte sich auf einen Ellbogen und flüsterte: Kaspar, Otto? Sie antworteten nicht. Ihm stockte der Atem bei der Vorstellung, daß jemand weit weg seinen Beistand suchte. Wer, wenn nicht Juliana, die in Lebensgefahr schwebte. Oder war es doch nur Einbildung, Überreizung der Nerven. Er schob den harten Keil unter seinem Kopf zurecht, drehte sich zur Wand und beobachtete, wie sich das Muster der Stäbe allmählich auflöste. Er nickte ein, wenn auch nur für Minuten. Seine Träume waren halbe Gedanken. Wie mager sie geworden ist. Daß sie mir noch einmal die Gemeinschaft anbietet. Wenn ich ausgeschlafen habe, findet sich eine Lösung. Sie darf nicht zugrunde gehen. Er schlief weiter, wachte vor Lärm auf: als ob sein Name zum dritten Mal ertönte, überdeutlich bis zum letzten Vokal, der leise versank. Da wußte er, daß es kein Wiedersehen gab. Er setzte sich auf und schlug die Hände vors Gesicht. So fanden ihn Göb und Renner, als die Zuchthausglocke zur Tagwache schrillte.
Auch dann wäre Hugos Erwachsenenleben anders verlaufen: Wenn sein Vater zu ihm gesagt hätte, nun erzähl du mal.
Wie es dir ergangen ist. Weil ich wissen will, was ich alles versäumt habe. Die Briefe ins Zuchthaus waren ja nicht dazu bestimmt gewesen, ihn mit zusätzlichen Sorgen zu belasten.
Außerdem durfte Salzmann in Butzbach nur alle sieben Wochen einen Brief schreiben, drei Briefe in Empfang nehmen, und seine Schwester in Kreuznach und seine Schwägerin in Stainz waren übereingekommen, sich das Schreiben aufzuteilen; die eine kümmerte sich um ihn, die andere um Juliana. Es bedurfte langwieriger Absprachen, wenn sie von dieser Übereinkunft abwichen, weil Hugo seinem Vater zum Geburtstag gratulieren, Tilla seiner Mutter ein Päckchen schicken wollte. Und ganz selten wurden auch Briefe zwischen Butzbach und Ravensbrück gewechselt.
„Meine liebe herzensgute Juliana!“– „Lieber guter Hugo!“Einmal verwechselte ihr Sohn in der Eile die Briefe an seine Eltern, so daß die Mutter die für den Vater bestimmte, dieser die an sie gerichtete Nachricht erhielt, worüber beide, wie sie in ihren nächsten Briefen schrieben, herzlich gelacht hätten.
»21. Fortsetzung folgt