Augsburger Allgemeine (Land West)
Ist frei das Gegenteil von bürgerlich?
Literatur Im modernen Leben erscheint alles möglich, nichts mehr normal. Ein sensationeller Bestseller führt zurück zum Kulturbruch, der uns heute noch vor entscheidende Fragen stellt
Vielleicht hätte ja auch bei Sam und Charlie alles ganz normal laufen können, Schulabschluss, Berufsausbildung, Heirat, Kinder, Familie – wenn sie selbst in einer normalen Familie aufgewachsen wären, also mit beiden Elternteilen, Geschwistern, Mittelstandsversorgung. Aber so ist es nicht.
New York, Herz der Moderne, die beiden sind 16, es ist das Jahr 1977 – und was zuvor in Hippieträumen noch für wenige die Revolte der wahren Liebe war, hat nun auch dieses ganz normale Leben erfasst: Das bürgerliche Modell zerfällt zusehends, Ehefrauen trennen sich, Männer stehen offen zu ihrer Liebe zu Männern … Wie es rund zehn Jahre später eben auch bei uns war. Verlust an Stabilität? Gewinn an Freiheit? Jedenfalls ein Kulturbruch, der bis in unsere Zeit mächtig fortwirkt.
Er fällt jeweils in eine Zeit, die heute als grau und bleiern erinnert wird. Bei uns die Kohl-Jahre, in den USA die des späten Carter, des frühen Reagan, Ende des Wirtschaftswunders, Stillstand – und damit Nährboden einer Jugendbewegung, die noch in viel größerem Maße das Bürgerliche aufbrechen will, gegen die Norm der Normalität vorgeht: Punk. Und so zieht es auch Sam und Charlie aus ihren Familienruinen hinaus in die Industriebrachen und besetzten Häuser, wo der Überlebenskampf schon verloren gegangen ist und dafür nun das wilde Leben tobt. Denn dort, wo heute die mächtigste Metropole unserer Zeit mit den höchsten Quadratmeterpreisen der Welt prunkt, in Manhattan, verkommen damals ganze Viertel. Und eben dort rotten sie sich zusammen, tanzen bei den ersten Konzerten von Patti Smith, sprayen im beginnenden Graffiti-Fieber Parolen an Wände oder dröhnen sich auch einfach nur mit all den überall verfügbaren Drogen zu bis in völlige EgalStimmung.
Mit Sam und Charlie führt uns Garth Risk Hallberg hinein ins Herz dieses Umbruchs. Sie sind zwei der fünf zentralen Figuren, um die der erst 36-jährige US-Autor seinen Debütroman „City On Fire“aufbaut, das Buch eines Nachgeborenen also. Vielleicht aber gerade, weil er persönlich die Zeit nicht erlebt hat, von deren Auswirkungen aber grundlegend geprägt ist, ist sein Buch viel mehr noch als ein tatsächlich über mehr als 1000 Seiten hinweg packender Roman. Es ist vor allem das Porträt jenes Kulturbruchs, an dem die Freiheit im Gegensatz zur Bürgerlichkeit definiert scheint, und wirft als solches auch einen fragenden Blick ins Heute. Frauen können sich trennen, Männer einander offen lieben… Aber wünschten sich nicht viele, der Bruch wäre nie geschehen und ringen darum umso rigider um eine normative Leitkultur? Auch wenn Garth Hallberg manchmal arg philosophisch und künstlerisch ambitioniert schlaumeiert und mitunter auch zum allzu schicksalhaften Schluss seiner Erzählbögen neigt – dass „City On Fire“sofort zum internationalen Bestseller geworden ist, ist kein Wunder.
Charlie liebt Sam. Die ihn eigentlich auch, hat aber, während er noch die Rückkehr einer neuen Normalität am Ende der Befreiung erhofft, die Lehre der Zeit verinnerlicht: „…dass man im Grunde nichts von dem horten konnte, was wirklich zählte. Gefühle, Menschen, Lieder, Sex, Feuerwerke: All diese Dinge existierten nur in der Zeit, und wenn der Moment vorbei war, waren auch sie vorbei.“Ihr Vater ist eingewanderter Experte für Feuerwerke – und der wurde nicht nur von seiner Frau verlassen, er muss zudem mitansehen, wie sein altes, kunstvolles Handwerk bereits von Computern übernommen wird. Wer wollte da noch auf ein echtes, beständiges Glück in der Zukunft setzen? Und doch ist dem System nicht zu entkommen. Auch die Revolte hilft letztlich mit – denn die brennenden Brachen Manhattans werden bereits für die „Rettung“durch Immobilieninvestoren unter Insidern verschoben. Dann lieber getreu dem Punk-Motto: lebe schnell, lebe intensiv, sterbe jung?
Natürlich ist das nicht die Nachricht von Hallbergs Roman. Vielmehr entwickelt er eine vielgestaltige Suche nach dem, was in einer solchen Welt noch Glück verheißt. Da ist der dunkelhäutige Lehrer Mercer, der nach New York kommt, weil er als Schwuler gerade hier, in der neuen Freiheit, eine Erfüllung seiner eigentlich ganz bürgerlichen Träume erhofft. Er gerät an den Milliardärs-Sprössling William, der nur abseits seiner zerbrechenden Familie eine Erfüllung für möglich hält, in der Freiheit der Kunst. Und da ist die Vietnamesin Jenny, die sich in der Offenheit der Moderne freie Entfaltung verspricht. Doch Mercer: „Aber irgendwann kommt alles zurück, richtig? Die alten Sehnsüchte, die alten Ängste und Trugbilder, wie ein Labyrinth, aus dem man nie herausfindet – nicht, weil es so komplex ist, sondern weil man eben so ist. In all der Zeit, in der er sich selbst frei geglaubt hatte, war er eigentlich ans Schicksal gefesselt gewesen oder was auch immer das Gegenteil davon ist…“
Doch William: „Keine Kunst, sei sie auch noch so großartig, kann dich der Spaltungen, der Verheerungen des gewöhnlichen Lebens entheben oder dich vor ihnen schützen.“Doch Jenny: „Sie war schon zwei Jahre in New York und lernte gerade erst, ihre Erwartungen auf das Maß ihres tatsächlichen Lebens herunterzuschrauben. Es war, als versuchte man, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken.“
So bleibt in „City On Fire“, das im Kern an Silvester einsetzt und nicht von ungefähr im großen Stromausfall von Manhattan am 13. Juli 1977 seinen Höhepunkt hat, in Rückblenden aber bis in die Fünfziger ausgreift, nur eine Geschichte zum Trost. Die von Williams Schwester Regan und ihrem Mann. Nach Lug und Betrug und Trennung finden die Eltern zweier Kinder wieder zueinander. „Darauf kann man ein Leben aufbauen: zwei Menschen, die die Fehler des anderen kennen und sich trotzdem entschieden haben, einander gegenüberzusitzen, in Socken, im Lampenschein, und Zeitschriften zu lesen, zu versuchen, nicht zu weit über den Tag hinauszublicken, der gerade vergangen ist, oder den, der vor ihnen liegt.“Das könnte versöhnlich klingen – fügte Hallberg in einer seiner regelmäßigen postmodernen Einsprengsel wie handschriftlichen Dokumenten und Magazin-Faksimiles nicht auch die Krankenakte von deren Sohn ein. Der, das 21. Jahrhundert hat begonnen, ist inzwischen 41, bindungsunfähig und leidet unter Depressionen. Er schreibt: „Ich begreife jetzt, dass erwachsen zu sein im Grunde in der Frage besteht, welche Einschränkungen man in Kauf nehmen will.“
Sind das wir? Heißt die neue Normalität Pragmatismus? Ist die heutige Freiheit die der Suche nach dem optimalen Kompromiss? Das Ziel heißt Reife. Wenn es schon nicht beständiges Glück gibt, so bleibt wenigstens Beständigkeit. Und ist das für Sam und Charlie nicht das Beste?
Garth Risk Hallberg: City On Fire. Aus dem Amerikanischen übertragen von Tobias Schnettler. S. Fischer Verlag, 1080 Seiten, 25 ¤