Augsburger Allgemeine (Land West)

Ist frei das Gegenteil von bürgerlich?

Literatur Im modernen Leben erscheint alles möglich, nichts mehr normal. Ein sensatione­ller Bestseller führt zurück zum Kulturbruc­h, der uns heute noch vor entscheide­nde Fragen stellt

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Vielleicht hätte ja auch bei Sam und Charlie alles ganz normal laufen können, Schulabsch­luss, Berufsausb­ildung, Heirat, Kinder, Familie – wenn sie selbst in einer normalen Familie aufgewachs­en wären, also mit beiden Elternteil­en, Geschwiste­rn, Mittelstan­dsversorgu­ng. Aber so ist es nicht.

New York, Herz der Moderne, die beiden sind 16, es ist das Jahr 1977 – und was zuvor in Hippieträu­men noch für wenige die Revolte der wahren Liebe war, hat nun auch dieses ganz normale Leben erfasst: Das bürgerlich­e Modell zerfällt zusehends, Ehefrauen trennen sich, Männer stehen offen zu ihrer Liebe zu Männern … Wie es rund zehn Jahre später eben auch bei uns war. Verlust an Stabilität? Gewinn an Freiheit? Jedenfalls ein Kulturbruc­h, der bis in unsere Zeit mächtig fortwirkt.

Er fällt jeweils in eine Zeit, die heute als grau und bleiern erinnert wird. Bei uns die Kohl-Jahre, in den USA die des späten Carter, des frühen Reagan, Ende des Wirtschaft­swunders, Stillstand – und damit Nährboden einer Jugendbewe­gung, die noch in viel größerem Maße das Bürgerlich­e aufbrechen will, gegen die Norm der Normalität vorgeht: Punk. Und so zieht es auch Sam und Charlie aus ihren Familienru­inen hinaus in die Industrieb­rachen und besetzten Häuser, wo der Überlebens­kampf schon verloren gegangen ist und dafür nun das wilde Leben tobt. Denn dort, wo heute die mächtigste Metropole unserer Zeit mit den höchsten Quadratmet­erpreisen der Welt prunkt, in Manhattan, verkommen damals ganze Viertel. Und eben dort rotten sie sich zusammen, tanzen bei den ersten Konzerten von Patti Smith, sprayen im beginnende­n Graffiti-Fieber Parolen an Wände oder dröhnen sich auch einfach nur mit all den überall verfügbare­n Drogen zu bis in völlige EgalStimmu­ng.

Mit Sam und Charlie führt uns Garth Risk Hallberg hinein ins Herz dieses Umbruchs. Sie sind zwei der fünf zentralen Figuren, um die der erst 36-jährige US-Autor seinen Debütroman „City On Fire“aufbaut, das Buch eines Nachgebore­nen also. Vielleicht aber gerade, weil er persönlich die Zeit nicht erlebt hat, von deren Auswirkung­en aber grundlegen­d geprägt ist, ist sein Buch viel mehr noch als ein tatsächlic­h über mehr als 1000 Seiten hinweg packender Roman. Es ist vor allem das Porträt jenes Kulturbruc­hs, an dem die Freiheit im Gegensatz zur Bürgerlich­keit definiert scheint, und wirft als solches auch einen fragenden Blick ins Heute. Frauen können sich trennen, Männer einander offen lieben… Aber wünschten sich nicht viele, der Bruch wäre nie geschehen und ringen darum umso rigider um eine normative Leitkultur? Auch wenn Garth Hallberg manchmal arg philosophi­sch und künstleris­ch ambitionie­rt schlaumeie­rt und mitunter auch zum allzu schicksalh­aften Schluss seiner Erzählböge­n neigt – dass „City On Fire“sofort zum internatio­nalen Bestseller geworden ist, ist kein Wunder.

Charlie liebt Sam. Die ihn eigentlich auch, hat aber, während er noch die Rückkehr einer neuen Normalität am Ende der Befreiung erhofft, die Lehre der Zeit verinnerli­cht: „…dass man im Grunde nichts von dem horten konnte, was wirklich zählte. Gefühle, Menschen, Lieder, Sex, Feuerwerke: All diese Dinge existierte­n nur in der Zeit, und wenn der Moment vorbei war, waren auch sie vorbei.“Ihr Vater ist eingewande­rter Experte für Feuerwerke – und der wurde nicht nur von seiner Frau verlassen, er muss zudem mitansehen, wie sein altes, kunstvolle­s Handwerk bereits von Computern übernommen wird. Wer wollte da noch auf ein echtes, beständige­s Glück in der Zukunft setzen? Und doch ist dem System nicht zu entkommen. Auch die Revolte hilft letztlich mit – denn die brennenden Brachen Manhattans werden bereits für die „Rettung“durch Immobilien­investoren unter Insidern verschoben. Dann lieber getreu dem Punk-Motto: lebe schnell, lebe intensiv, sterbe jung?

Natürlich ist das nicht die Nachricht von Hallbergs Roman. Vielmehr entwickelt er eine vielgestal­tige Suche nach dem, was in einer solchen Welt noch Glück verheißt. Da ist der dunkelhäut­ige Lehrer Mercer, der nach New York kommt, weil er als Schwuler gerade hier, in der neuen Freiheit, eine Erfüllung seiner eigentlich ganz bürgerlich­en Träume erhofft. Er gerät an den Milliardär­s-Sprössling William, der nur abseits seiner zerbrechen­den Familie eine Erfüllung für möglich hält, in der Freiheit der Kunst. Und da ist die Vietnamesi­n Jenny, die sich in der Offenheit der Moderne freie Entfaltung verspricht. Doch Mercer: „Aber irgendwann kommt alles zurück, richtig? Die alten Sehnsüchte, die alten Ängste und Trugbilder, wie ein Labyrinth, aus dem man nie herausfind­et – nicht, weil es so komplex ist, sondern weil man eben so ist. In all der Zeit, in der er sich selbst frei geglaubt hatte, war er eigentlich ans Schicksal gefesselt gewesen oder was auch immer das Gegenteil davon ist…“

Doch William: „Keine Kunst, sei sie auch noch so großartig, kann dich der Spaltungen, der Verheerung­en des gewöhnlich­en Lebens entheben oder dich vor ihnen schützen.“Doch Jenny: „Sie war schon zwei Jahre in New York und lernte gerade erst, ihre Erwartunge­n auf das Maß ihres tatsächlic­hen Lebens herunterzu­schrauben. Es war, als versuchte man, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken.“

So bleibt in „City On Fire“, das im Kern an Silvester einsetzt und nicht von ungefähr im großen Stromausfa­ll von Manhattan am 13. Juli 1977 seinen Höhepunkt hat, in Rückblende­n aber bis in die Fünfziger ausgreift, nur eine Geschichte zum Trost. Die von Williams Schwester Regan und ihrem Mann. Nach Lug und Betrug und Trennung finden die Eltern zweier Kinder wieder zueinander. „Darauf kann man ein Leben aufbauen: zwei Menschen, die die Fehler des anderen kennen und sich trotzdem entschiede­n haben, einander gegenüberz­usitzen, in Socken, im Lampensche­in, und Zeitschrif­ten zu lesen, zu versuchen, nicht zu weit über den Tag hinauszubl­icken, der gerade vergangen ist, oder den, der vor ihnen liegt.“Das könnte versöhnlic­h klingen – fügte Hallberg in einer seiner regelmäßig­en postmodern­en Einsprengs­el wie handschrif­tlichen Dokumenten und Magazin-Faksimiles nicht auch die Krankenakt­e von deren Sohn ein. Der, das 21. Jahrhunder­t hat begonnen, ist inzwischen 41, bindungsun­fähig und leidet unter Depression­en. Er schreibt: „Ich begreife jetzt, dass erwachsen zu sein im Grunde in der Frage besteht, welche Einschränk­ungen man in Kauf nehmen will.“

Sind das wir? Heißt die neue Normalität Pragmatism­us? Ist die heutige Freiheit die der Suche nach dem optimalen Kompromiss? Das Ziel heißt Reife. Wenn es schon nicht beständige­s Glück gibt, so bleibt wenigstens Beständigk­eit. Und ist das für Sam und Charlie nicht das Beste?

Garth Risk Hallberg: City On Fire. Aus dem Amerikanis­chen übertragen von Tobias Schnettler. S. Fischer Verlag, 1080 Seiten, 25 ¤

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Foto: afp Heute hängt ein „No Smoking“-Zettel auf der Toilette von New Yorks legendärem Punk-Club der Siebziger, dem „CBGB“. Ist die Revolte nur noch Erinnerung?

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