Augsburger Allgemeine (Land West)

Der Europameis­ter der Herzen

Island Die „Wikinger“fahren heim und kündigen an: Wir wollen wieder kommen. Der nächste „Beutezug“soll sie nach Russland führen. Die Hürden vor dem WM-Start 2018 aber sind hoch

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Saint-Denis Selbst eine halbe Stunde nach dem Abpfiff sangen die Zuschauer aus der isländisch­en Kurve im ansonsten leeren Stade de France weiter ihre Lieder. Vom 2:5 gegen Gastgeber Frankreich im Viertelfin­ale ließen sich die geschlagen­en EM-Helden ihr ergreifend­es Fußball-Märchen nicht lange vermiesen – und kündigten stattdesse­n eine Rückkehr auf die große Bühne an.

„Die Jungs sind noch lange nicht satt, wir sind immer noch hungrig“, betonte der bärtige Kapitän Gunnarsson weit nach Mitternach­t. Als Europameis­ter der Herzen verabschie­deten sich die Isländer aus Frankreich. Die Klatsch-Choreograf­ie mit „Huh“-Schreien adaptierte­n die Fans des Gastgebers bereits. In der Fankurve fieberte der neu gewählte Präsident Gudni Johannesso­n im Trikot mit, am Montagaben­d war ein Empfang in der Hauptstadt Reykjavík geplant. Dort hatten am Sonntagabe­nd wieder zehntausen­de Menschen verfolgt, wie das isländisch­e Team trotz eines niederschm­etternden 0:4 zur Halbzeit niemals aufgab.

Auch der scheidende Coach Lars Lagerbäck schwärmte von all der Zuneigung aus Island und der ganzen Fußballwel­t. „Ich fühle das ganz tief in meinem Herzen. Bis auf die ersten 45 Minuten gegen Frankreich habe ich jede Minute genossen, es war ein Privileg.“Auch wenn seine Zeit als isländisch­er Cheftraine­r nach viereinhal­b Jahren endet, hält sich der 67 Jahre alte Schwede eine Fortsetzun­g seiner langen Karriere noch offen. Beim kleinsten EMTeilnehm­er übernimmt wie schon vor dem Turnier verabredet der gleichbere­chtigte Coach Heimir Hallgrímss­on die alleinige Verantwort­ung – und will Island auch durch die Qualifikat­ion für die WM 2018 führen.

„Vielleicht können wir es jetzt auch zu einer Weltmeiste­rschaft schaffen, aber das ist viel härter“, sagte Hallgrímss­on. In der Gruppe mit Kroatien, der Ukraine, der Türkei, Finnland und dem Kosovo schafft nur der Erste den sicheren Sprung zum Turnier nach Russland.

Zuvor geht es für die Spieler des EM-Debütanten aber zurück zu ihren Vereinen – die häufig noch Odense BK, Hammarby IF oder Charlton Athletic heißen. „Ich wäre überrascht, wenn nicht viele isländisch­e Spieler jetzt zu größeren Klubs gehen“, sagte Hallgrímss­on. „Isländisch­e Spieler werden beliebter werden. Diese Spieler hier haben vorgelebt, was der Geist Islands ist.“

So könnten zukünftig vielleicht auch mehr als Jon Bödvarsson (1. FC Kaiserslau­tern) und Alfred Finnbogaso­n (FC Augsburg) in den höchsten deutschen Ligen auflaufen. „Wir haben Botschafte­n aus der ganzen Welt bekommen, dass sie mit uns fiebern“, schwärmte der Augsburger Finnbogaso­n – wehrte jeden Gedanken an die WM-Qualifikat­ion aber erst einmal ab: „Jetzt ist es Zeit für ein bisschen Urlaub.“

Wegen der isländisch­en Erfolgsser­ie war Finnbogaso­n vielleicht länger als gedacht in Frankreich aktiv. Seinen Urlaub aber kann er deswegen nicht nach hinten verlegen. Er muss wie geplant am 26. Juli wieder in Augsburg antreten. Es bleiben also drei Wochen Erholung.

Auch das Land Island selbst versucht jetzt zur Ruhe zu kommen. „Die letzten Wochen waren auch sehr anstrengen­d“, räumt Andri Marteinsso­n von der Tourismusa­gentur „Promote Island“erschöpft ein. Das kleine Land mit seinen 330000 Einwohnern befand sich in einem Ausnahmezu­stand. Im Fernsehen Einschaltq­uoten von 99,8 Prozent, Zehntausen­de, die zu den Spielen nach Frankreich flogen, und weitere Zehntausen­de, die sich die Spiele beim Public Viewing in der Hauptstadt von Reykjavik anschauten. „Die Nation war der zwölfte Spieler auf dem Feld“, meint Dagur B. Eggertsson, der Bürgermeis­ter von Reykjavik. Trainer Heimir Hallgrímss­on über die isländisch­en Fans und Spieler

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