Augsburger Allgemeine (Land West)
Feuerzeichen in Berlin
Auf diese Nachricht hat Georg Heym (1887 – 1912) lange gewartet: Ende November 1910 erreicht den 23-Jährigen ein Brief von Ernst Rowohlt aus Leipzig. Er sei, so schreibt der Verleger, durch ein Gedicht auf Heym aufmerksam geworden, das kurz zuvor in Franz Pfemferts Wochenschrift Der Demokrat erschienen ist. Rowohlt weiter: „Und so erlaube ich mir ganz ergebenst bei Ihnen anzufragen, ob Sie mir nicht ein Manuskript zum Verlag unterbreiten möchten, sei es nun Lyrik oder Prosa.“
Im Januar 1911 schließt Heym mit Ernst Rowohlt einen Vertrag über die Veröffentlichung eines Gedichtbandes ab. Selbiger wird im April 1911 unter dem Titel „Der ewige Tag“publiziert. In ihm findet sich eben jenes Gedicht, für das sich der Verleger so begeistert hatte. Sein Titel: „Berlin“. (Die unterschiedlichen Nummerierungen mit I bzw. II lassen wir hier beiseite.)
Georg Heym, aus der Provinz, dem schlesischen Hirschberg stammend, ist mit 13 nach Berlin gekommen. Von April 1910 an widmete er der Millionenstadt eine Reihe von Sonetten. Sie bekunden Faszination einerseits und Angst vor dem fremden Moloch andererseits.
Dieser Kontrast grundiert auch unser „Berlin“-Beispiel. Es reiht, wie es scheint, Beobachtungen aneinander, zeichnet ein detailliertes realistisches Stadtbild. Doch von Beginn an fallen die Inversionen auf („Der dunklen Speicher“usw.), vor allem die nicht ganz geheuren Bildelemente in den fünfhebigen Jamben. Heym entwirft ein düsteres Szenario (beteert, dunkel, Rauch, Ruß, ölig...), schwärzt es derart ein, dass die Drohkulisse ins Auge sticht.
Weitere „expressionistische“Strategien laden das Gedicht mit Verhängnisvollem auf: die Überdimensionierung des Realen („hohe Kähne“); die Metaphorisierung („des Rauches Mähne“lässt an ein riesiges Tier denken); die Kontrastierung (Ausflugsdampfer gegen Schlepperkähne, Lärmsignale, „wachsend in der Stille“, Gartenidylle gegen Industrie); die Verdinglichung (übermächtige IndustrieZeichen gegen die anonyme Menschenwelt); schließlich die Häufung des Abstoßend-Hässlichen.
Der von Heym sukzessiv entfaltete Zug ins Dämonische steigert und verdichtet sich in der mythisierenden Schluss-Metapher „der Riesenschlote Nachtfanale“. Fanale sind Feuerzeichen, die auf einen gewaltsamen Umsturz deuten. Das den Befund des Gedichts ins bezwingend Übermächtige überführende Katastrophenbild weist voraus auf Heyms rauschhaft wütende Feuer, die seine späteren Großstadt-Gedichte heimsuchen.
Hingewiesen sei abschließend auf die hohe, weil eher unauffällige (Reim-)Kunst, mit der Heym sein Berlin-Bild ins Sonett einbettet.