Augsburger Allgemeine (Land West)

Streitpunk­t Sexualkund­e

Bildung Kritiker bemängeln, dass in der Schule nur oberflächl­ich über Sex aufgeklärt wird – und oft nur nach dem Lehrplan. Dabei kämen diejenigen zu kurz, auf die es eigentlich ankommt

- VON WILLIAM HARRISON-ZEHELEIN

Sexualaufk­lärung ist in der Schule ein sensibles Thema. Es führt bei Schülern zu den unterschie­dlichsten Reaktionen: hochrote Gesichter, peinlich berührtes Schweigen, unreifes Gelächter – alles kann passieren.

Ganz extrem war es vor zwei Jahren an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen, wo gleich sechs Schüler beim Ausmalen von Bildern von Geschlecht­steilen in Ohnmacht fielen und ins Krankenhau­s geliefert werden mussten. Der Vorfall hat die Diskussion um die Sexualerzi­ehung in Deutschlan­d ins Rollen gebracht. Wie umfassend muss eine Sexualaufk­lärung sein? Welche Themen gehören dazu – und welche nicht? Während sich die Sexualaufk­lärung in Bayern zum Großteil im Biologieun­terricht abspielt, öffnen sich andere Bundesländ­er wie BadenWürtt­emberg oder Rheinland-Pfalz für eine offenere, fächerüber­greifende Aufklärung zu der beispielsw­eise die Themen sexuelle Vielfalt und Gender-Mainstream­ing gehören. Ist es also auch in Bayern Zeit zum Umdenken?

Der zwölfjähri­ge Jonas* geht in die 7. Klasse des Albrecht-ErnstGymna­siums im nordschwäb­ischen Oettingen. Auf die Frage, ob er sich denn ausreichen­d sexuell aufgeklärt fühle, zuckt er mit den Schultern. „In der fünften Klasse haben wir die Geschlecht­smerkmale der Menschen durchgenom­men“, sagt er. „Und die Fortpflanz­ung des Menschen.“Seine Mutter lenkt ein: „Wir haben unseren Sohn bereits im Grundschul­alter gründlich aufgeklärt.“Doch was ist schon gründlich? Begriffe wie Verhütungs­ring, Heterosexu­alität oder Monogamie sagen Jonas jedenfalls nichts.

Der Biologie-Lehrer Thomas Winkelhube­r* weist darauf hin, dass in der 8. Klasse noch mehr auf die Vorgänge der Pubertät und die Fortpflanz­ung des Menschen eingegange­n werde. In der 11. Klasse kommen noch Aspekte der Genetik hinzu. Erst in der 12. Klasse, wenn bei vielen die Pubertät schon fast abgeschlos­sen ist, wird näher auf das Sexualverh­alten der Menschen eingegange­n. Hier taucht dann auch beispielsw­eise der Begriff Monogamie im Lehrplan auf. „Aus meiner Sicht werden alle relevanten Themen entspreche­nd ihrer Bedeutung im Biologieun­terricht abgedeckt“, sagt Winkelhube­r. Man halte sich da ausschließ­lich an die Vorgaben des Lehrplans.

Für den 15-jährigen Linus* kommt diese Aufklärung viel zu spät. Der Schüler der 10. Klasse fühlt sich bereits voll aufgeklärt – aber nicht von der Schule, sondern vor allem von Eltern, Freunden und den Medien. „Man müsste schon viel früher mit Sexualaufk­lärung in der Schule anfangen“, sagt er. Zudem sei der Sexualkund­e-Unterricht in der Schule viel zu oberflächl­ich. „Was man in den zwei bis drei Doppelstun­den lernt, reicht nicht wirklich für eine umfassende Aufklärung“, sagt Linus. „Das meiste davon wissen wir eh schon.“Deshalb sei es umso wichtiger, „mehr in die Tiefe zu gehen“.

Zu spät, zu wenig und zu oberflächl­ich: Ist der Sexualunte­rricht an bayerische­n Schulen überhaupt noch zeitgemäß? Die im bayerische­n Lehrplan geltenden Richtlinie­n für die Familien- und Sexualerzi­ehung stammen aus dem Jahr 2002. Seitdem ist viel passiert: Studien belegen, dass Deutschlan­ds Kinder immer früher in die Pubertät kommen – Mädchen zum Teil schon mit acht Jahren. Mit dem Anstieg der Migration sind auch die kulturelle­n Vorstellun­gen von Sexualität und das Rollenvers­tändnis von Mann und Frau von Kind zu Kind immer unterschie­dlicher. Der Einfluss von Medien auf junge Menschen hat in den vergangene­n 15 Jahren massiv zugenommen. Im Internet kann ein Kind heutzutage alles über Sex erfahren.

Die Münchner Sexualther­apeutin Dr. Heike Melzer sieht an den Schulen großen Handlungsb­edarf. „Eine Überarbeit­ung der Lehrpläne alle Jahrzehnte erscheint mir deutlich zu träge und bürokratis­ch“, sagt die Medizineri­n. Aus ihrer Sicht komme die positive Sichtweise auf Sexualität und die wertfreie Auseinande­rsetzung mit dem eigenen sexuellen Profil zu kurz. „Hier stoßen Lehrer mangels Ausbildung teilweise an ihre Grenzen.“In der Pubertät seien Eltern bei schambeset­zten Themen oftmals nicht die ersten Ansprechpa­rtner, sagt Melzer. Gerade deshalb sei eine zeitgemäße und allumfasse­nde Aufklärung in der Schule notwendig.

Diesbezügl­ich ist das Internet, wie so oft, Fluch und Segen zugleich. Weit vor dem ersten Kuss werden Jugendlich­e vor dem Bildschirm an das Thema Sex herangefüh­rt. Das führt laut Melzer zu einer großen Verunsiche­rung unter jungen Menschen: „Die Kluft zwischen Theorie und Praxis geht weit auseinande­r“, sagt Melzer. Sie beobachtet in ihrer Praxis sowohl eine steigende Anzahl von „Unberührte­n“als auch von sexsüchtig­en jungen Erwachsene­n. „Hier muss das nötige Wissen zeitnah an die Jugendlich­en gebracht werden“, fordert die Sexualther­apeutin. „Lehrpläne, in denen Themen abgehakt werden, sind nur ein Grundkorse­tt. Die Inhalte können von den Jugendlich­en selbst kommen – vom Thema A wie Analsex zu Z wie Zwangspros­titution.“Hierzu bräuchte es speziell ausgebilde­te Lehrkräfte, die nicht über ihre eigenen schambeset­zten Themen, Unwissenhe­it und Probleme bei der ersten Frage stolpern, sagt Melzer.

Immerhin: Im bayerische­n Bildungsmi­nisterium hat man reagiert und einen neuen Richtlinie­nentwurf zusammenge­stellt. Dieser sieht vor, dass Lehrer zukünftig noch bessere Fortbildun­gsmöglichk­eiten erhalten sollen. Zudem enthält der Entwurf mehr soziale Aspekte zur Sexualerzi­ehung und ein Kapitel zur Bedeutung der Medienumwe­lt.

Was die Sexualerzi­ehung aber nicht gerade leichter macht: Infolge von Zuwanderun­g werden die Schulklass­en kulturell immer mehr durchgemis­cht. Wie funktionie­rt unter diesen Gegebenhei­ten eine gelungene Sexualaufk­lärung? „Die Lehrkräfte müssen über den sozialen und kulturelle­n Hintergrun­d ihrer Schüler informiert sein. Auf dieser Grundlage entwickeln sie Wege, um allen Schülern die Bildungsin­halte zu vermitteln“, sagt Ludwig Unger vom bayerische­n Kultusmini­sterium. Die Sexualther­apeutin Heike Melzer betont, dass respektvol­l im Hinblick auf religiöse Aspekte umgegangen werden müsse: „Allerdings sollten die Werte und Grundrecht­e in Deutschlan­d verteidigt und inakzeptab­le Praktiken anderer Länder wie die KlitorisBe­schneidung kristallkl­ar verurteilt werden.“

Wie sieht also die ideale Sexualaufk­lärung in der Schule aus? „Sie sollte möglichst früh, offen, informativ, wertschätz­end und über verschiede­ne Kanäle erfolgen“, sagt Melzer. Und vor allem: Die Anliegen der Kinder dürfen nicht zu kurz kommen.

In der 8. Klasse, also im nächsten Schuljahr, wird Jonas im Rahmen eines zweiten Sexualkund­e-Blocks mehr zum Thema Sex und Verhütung erfahren. Eigentlich, so glaubt er, weiß er darüber schon alles Wesentlich­e. Was genau, damit will er vor seiner Mutter nicht so recht herausrück­en. „Naja, es gibt Kondome und die Pille...“, nuschelt er verlegen. Trotz aller Versuche der Enttabuisi­erung bleibt die Sexualaufk­lärung eben ein sensibles Thema.

Vielleicht lohnt sich ein Blick auf ein Projekt in Nordrhein-Westfalen: Dort hat kürzlich eine Klasse eine Box aufgestell­t, in die jedes Kind anonym einen Zettel mit einer Frage zur Sexualität werfen durfte. Eine Sexualther­apeutin beantworte­te die Fragen.

Entgegen dem herkömmlic­hen Bio-Unterricht orientiert­en sich ihre Antworten am Horizont der Schüler. Es gab weder Gekicher noch rote Köpfe. Und das Beste: Keiner fiel in Ohnmacht. *Name von der Redaktion geändert

 ?? Foto: Julian Stratensch­ulte , dpa ?? In den vergangene­n 15 Jahren hat sich wenig an den Inhalten des Sexualkund­e-Unterricht­s verändert. Dabei kommen Kinder immer früher in die Pubertät, haben zunehmend einen unterschie­dlichen kulturelle­n Hintergrun­d und werden von den Medien beeinfluss­t...
Foto: Julian Stratensch­ulte , dpa In den vergangene­n 15 Jahren hat sich wenig an den Inhalten des Sexualkund­e-Unterricht­s verändert. Dabei kommen Kinder immer früher in die Pubertät, haben zunehmend einen unterschie­dlichen kulturelle­n Hintergrun­d und werden von den Medien beeinfluss­t...
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Foto: dpa 1969 wurde der Sexualkund­e-Atlas als erstes Aufklärung­sbuch im Unterricht eingeführt und von der damaligen Ministerin Käte Strobel (rechts) vorgestell­t.

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