Augsburger Allgemeine (Land West)

„Hallo, ich bin die Leiche“

Titel-Thema Ein „Tatort“ohne Mordopfer, das geht heute nicht mehr. Irgendjema­nd muss es also spielen. Und das ist gar nicht einfach. Eine Geschichte über die Kunst des Stillhalte­ns, den allererste­n „Toten“1970 und eine peinliche Panne in der Pathologie

- VON DANIEL WIRSCHING

München/Werl

Die Leiche ist an den Ort zurückgeke­hrt, an dem man sie fand. Münchens Nobel-Vorort Grünwald, Villa links, Villa rechts, in der Mitte ein Mehrfamili­enhaus aus Waschbeton. Die Leiche lag in der Einfahrt, Kopf zum Garagentor hin, auf dem Doppel-T-Verbundpfl­aster, Knochenste­ine werden die Pflasterst­eine genannt.

Die Leiche legt sich auf den herbstlich-kalten Boden. War ihr rechter Arm auf dem Bauch? Hatte sie ihn von sich gestreckt? „Es ist kalt“, sagt sie, „wie damals. Da war es superkalt. Es hat ein bisschen geregnet, und das im August.“Sie starrt in den Himmel. Wie am Drehtag. Die Leiche lacht, steht auf. „So war das also ungefähr“, sagt Jasmin Georgi, die 35-jährige „Tatort“-Leichen-Darsteller­in. „Irgendwann kriegt man ein Zucken.“Irgendwann hätten auch ihre Augen getränt. „Und plötzlich hatte ich dieses Kratzen im Hals und sagte mir: Sei cool, sei cool.“Sie habe die Szene nicht ruinieren wollen.

In der Szene des BR-„Tatorts“„Die Liebe, ein seltsames Spiel“bewegt Rechtsmedi­ziner Dr. Matthias Steinbrech­er, gespielt von Robert Joseph Bartl, ihren Finger. Udo Wachtveitl als Kommissar Franz Leitmayr blickt, die Stirn in Falten, zu ihr herab. Georgi muss möglichst bewegungsl­os bleiben, vielleicht eine Stunde lang. Sie weiß nicht, wie nah sie im Sucher der Kamera erscheint oder was nächstes Jahr zu sehen sein wird, wenn der „Tatort“im Ersten läuft. Jemand vom FilmTeam legt ihr in Pausen eine Wärmflasch­e auf den Bauch. Sie atmet flach, komplett die Luft anzuhalten gehe ja nicht, und fixiert einen Punkt über sich. Dort ist ein Erker.

Am Sonntag zeigt die ARD den 1000. „Tatort“, der wie der erste heißt: „Taxi nach Leipzig“. Die Krimi-Reihe gehört zum Inventar der Republik. Die Kommissare, die Assistente­n, manche Mörder haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrann­t. Die Guten. Die Bösen. Die Leichen? Es ist nicht einmal „offiziell“bekannt, wie viele „Tatort“-Leichen es nun genau gibt. Sie werden in den für die jeweiligen Folgen zuständige­n Landesrund­funkanstal­ten der ARD üblicherwe­ise nicht gezählt. Zu makaber. „Meiner Schätzung nach erzählen wir im Schnitt nicht mehr als ein bis zwei Morde pro ,Tatort‘“, sagt SWR-Fernsehfil­m-Chefin Martina Zöllner. Die Macher der Fan-Webseite tatort-fundus.de kommen auf insgesamt 2280 Leichen, einschließ­lich der Jubiläumsf­olge.

Zwar sind spätestens seit den Hamburger Folgen mit Til Schweiger als Kommissar Nick Tschiller ab 2013 die Leichen-Zahlen gestiegen. Für die Verantwort­lichen ist der „Tatort“aber nach wie vor „Familienfe­rnsehen“. Dass immer gemordet wird, war zumindest anfangs kein Muss. 21 Folgen kamen, so tatort-fundus.de, ohne Leiche aus. Es ging um Spionage oder Entführung­en. Warum sich das änderte, kann die ARD nicht erklären.

Jasmin Georgis „Tatort“-Figur wird erstickt. Georgis Augen haben etwas Leuchtende­s, als sie erzählt, wie sie in Grünwald eintraf und sich beim Film-Team vorstellte: „Hallo! Ich bin Jasmin, ich bin die Leiche.“Auf einem der Wohnwagen für die Schauspiel­er entdeckt sie ihren Rollenname­n: Verena Schneider. Sie ist glücklich. An jenem August-Tag und zwei Tage später beim Dreh in der Pathologie des Klinikums Schwabing. Dort muss sie sich halbnackt auf einen Obduktions­tisch legen. Augen zu, Luft anhalten.

Den „Tatort“-Ermittlern wurden schon allerlei Affären, Schrulligk­eiten, sogar ein Gehirntumo­r in die Drehbücher geschriebe­n, die Täter wurden zu vielschich­tigen Figuren. „Die Leiche aber wird gefunden und stellt eine kleinere oder größere Komplikati­on dar“, sagt Joe 63. Daran habe sich in Jahrzehnte­n nichts wesentlich geändert. Erschossen­e, Erschlagen­e, Erstochene, Erstickte, Ertränkte, Erfrorene. Bauschs Feuerzeug klickt. Er steckt sich eine „American Spirit“an und sagt in den Zigaretten­rauch hinein: „Mord und Totschlag, das ist Unterhaltu­ng.“Es gebe eine große Angstlust in der Bevölkerun­g.

Bausch bezieht sich auf die Krimi-Begeisteru­ng der Deutschen, er ist im Fernsehen der Rechtsmedi­ziner Dr. Joseph Roth im Kölner „Tatort“– und im „wirklichen Leben“seit 1987 Arzt im Gefängnis von Werl bei Dortmund. Um vom Gefängnise­ingang bis zu seinem Büro im „Gesundheit­szentrum“zu kommen, muss er 14 Türen öffnen. Jedes Mal klirrt es hell, wenn einer der handlangen Schlüssel seines Schlüsselb­undes ins Schloss scheppert. Metall an Metall, der Gefängnis-Sound. Er klingt so anders als die „Tatort“-Vorspann-Melodie.

Von seinem Büro aus blickt Bausch durch zwei vergittert­e Fenster auf die Gebäude „seines Knasts“, wie er sagt. Mörder, Vergewalti­ger, Kinderschä­nder sind seine Patienten. Der „Tatort“sei relativ realistisc­h, sagt er. Die Realität jedoch sei banaler. „Menschen werden wegen 30 Euro umgebracht oder weil einer schlechte Laune hatte.“„Tatort“-Stoff? Nicht unbedingt. Das schon: Die Leiche „eines etwa fünfjährig­en Jungen“wurde auf einem Autobahnra­stplatz nördlich von Leipzig gefunden, „keinerlei äußere Verletzung­en“. Das Kind habe aus der DDR stammende Kleidung getragen – und Schuhe aus der Bundesrepu­blik. Es ist die Leiche aus dem ersten „Tatort“, der am 29. November 1970 ausgestrah­lt wurde.

Petra Mahlau war diese Jungenleic­he. Ihr Bruder, dem sie zum Verwechsel­n ähnelte, hatte in dem Film bereits eine kleine Sprechroll­e. Daher spielte die damals Neunjährig­e mit den braunen Haaren ein männliches Opfer mit blonden Locken. Sie ist in einer Großeinste­llung zu sehen, für drei, vier Sekunden, auf der Rückbank eines Mercedes.

Mahlau ist heute 55 und arbeitet als Diplom-Psychologi­n in einer städtische­n Beratungss­telle für Kindertage­sstätten nahe Hamburg. Sie erinnert sich nicht mehr an jede Einzelheit. Dass die Perücke juckte, weiß sie allerdings noch. Als sei es gestern gewesen. „Ich lag unter einer Wolldecke“, erzählt sie am Telefon, „und mein Vater hing praktisch über dem Vordersitz, neben ihm der Regisseur. Da merkte ich, dass mich die Decke kitzelte.“Petra Mahlaus Vater ist der Kameramann Nils-Peter Mahlau.

Sie wird gelegentli­ch darauf angesproch­en und wundert sich dann. Fast ein halbes Jahrhunder­t ist vergangen, seit ihre Szene im Garten eines Hamburger Hauses gedreht wurde. „Tu so, als ob du schläfst“, riet man ihr. Sie ließ ihre Augen einen Spalt breit offen, um einen Punkt am Dachhimmel des Autos fixieren zu können. Erst Jahre danach, als ihr „Tatort“wiederholt wurde, sah sie ihn. Als Kind durfte sie es nicht. Und erst vor sieben Jahren erfuhr sie von einem Journalist­en, dass sie die erste „Tatort“-Leiche gewesen ist.

Das klingt merkwürdig, liegt aber daran, dass „Taxi nach Leipzig“nicht unter dem Etikett „Tatort“produziert wurde. ARD-Verantwort­liche wollten dem ZDF, das seit 1969 mit „Der Kommissar“eine beBausch, liebte Krimiserie im Programm hatte, etwas entgegense­tzen. Schnell. „Jeder kramte irgendetwa­s raus, was er schon in der Schublade hatte“, hat „Tatort“-Erfinder Gunther Witte mal gesagt. „Plötzlich war ,Taxi nach Leipzig‘ der erste ,Tatort‘, obwohl er gar nicht als solcher gedreht worden war.“

In Petra Mahlaus Familie wurde nicht weiter darüber gesprochen. Ihr Bruder erhielt 50 Mark Gage, sie nichts. Was sie kränkte: Mitschüler glaubten ihr nicht, dass sie im „Tatort“mitgespiel­t hatte. Sie erkannten sie nicht. Wegen der Perücke. Petra Mahlau wollte nie Schauspiel­erin werden.

Jasmin Georgi aus dem oberfränki­schen Selb will es, nun unbedingt, und der „Tatort“ist für sie ein Schritt in Richtung ihres Traums. Sie arbeitet erst in einer Bank, nimmt dann Tanzstunde­n, Schauspiel­unterricht in New York und München. Bei ihrer Abschlussp­rüfung 2008 spielt sie eine Szene aus „Elektra“, jener Tragödie des griechisch­en Dichters Sophokles. Elektra trauert um ihren Bruder Orestes, meint, er sei gestorben. Georgis Bruder Christian schaut zu, sagt: „Das war so gut, du kriegst bestimmt mal den Oscar.“Drei Monate später ist er tot. Krebs. Sie lässt von der Schauspiel­erei ab.

Seit vier Jahren unterricht­et sie Jazzdance in einer Münchner Tanzschule, ist „Assistenti­n der Geschäftsl­eitung“. An den Wochenende­n jedoch führt sie durch die Bavaria Filmstadt, vorbei an den Kulissen von „Das Boot“, vorbei am Glücksdrac­hen Fuchur aus „Die unendliche Geschichte“. Eines Tages erfährt Jasmin Georgi, dass US-Regisseur Oliver Stone in München ist und Komparsen für seinen Film über den Ex-Geheimdien­stmitarbei­ter Edward Snowden sucht. Am 17. Januar 2015 füllt sie ein OnlineForm­ular einer Casting-Agentur aus, einfach so. Am 24. März darf sie in Stones Film in zwei Szenen eine Agentin mimen. Eine Mini-MiniRolle. Sie kennt die Daten auswendig. Über die Agentur bekommt sie auch das Angebot als „Tatort“-Leiche, einen Monat vor Drehbeginn.

Als sie schließlic­h auf dem Obduktions­tisch liegt, halbnackt und fröstelnd, denkt sie an ihren Bruder. „Christian, gib mir die Kraft, dass ich stoisch daliegen kann.“Es funktionie­rt, am Ende des Drehs applaudier­t ihr das Film-Team.

Joe Bausch, der Knast-Arzt und „Tatort“-Rechtsmedi­ziner, nimmt einen Zug an seiner Zigarette, denkt nach. Meistens begegne er der „Tatort“-Leiche ja in der Maske. „Ich bin die Leiche“, sage die Leiche häufig. „Das sehe ich“, antwortet er dann. Häufig wolle sich die Leiche mit ihm fotografie­ren lassen, „Tatort“-Leiche zu sein, das fasziniere viele. Ach, und manchmal frage ihn die Maskenbild­nerin etwas wie: „Joe, du bist doch vom Fach, sieht das vernünftig aus?“„Ne, das Blut ist geronnen, das musst du dunkler machen“, entgegnet er. Alltag für Bausch, der seit der 1997 gedrehten Folge „Manila“zum Kölner „Tatort“-Ensemble gehört.

Nicht alltäglich für Bausch ist es, wenn sich eine „Leichen“-Darsteller­in Erfrierung­en zuzieht. Das passierte tatsächlic­h bei einem Dreh. Bausch erzählt, dass sie am Rhein liegen musste, Gesicht und Hände auf vereisten Steinen. Eine andere Darsteller­in, fällt ihm jetzt ein, habe sich geweigert, für die Wiederholu­ng einer Szene in den Leichenküh­lschrank geschoben zu werden. Bausch lacht. Das Krankenhau­s, in dem gedreht wurde, hatte versichert, der Kühlschran­k sei leer. Irgendwann also habe ihn die Leiche gefragt: „Sag mal, das über mir, was ist denn das?“

„Da war die Realität auf einmal sehr nah“, sagt Joe Bausch und blickt durch die vergittert­en Fenster seines Büros. Ein paar Gefangene haben eben „Freistunde“. Eine Szene wie aus einem „Tatort“.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? „Es war superkalt. Und es hat ein bisschen geregnet“: Darsteller­in Jasmin Georgi hat sich für unsere Zeitung noch einmal auf das herbstlich-kalte Pflaster gelegt. Genauso wie damals, als sie die Leiche in einem „Tatort“spielte.
Foto: Ulrich Wagner „Es war superkalt. Und es hat ein bisschen geregnet“: Darsteller­in Jasmin Georgi hat sich für unsere Zeitung noch einmal auf das herbstlich-kalte Pflaster gelegt. Genauso wie damals, als sie die Leiche in einem „Tatort“spielte.
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Foto: NDR Der erste „Tatort“: Petra Mahlau spielt damals einen toten Jungen.
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Foto: Jörg Carstensen, dpa Joe Bausch ist der Rechtsmedi­ziner im Kölner „Tatort“.

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