Augsburger Allgemeine (Land West)

Wer nicht mehr laufen kann, wird erschossen

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staunen, als sie im Wald die Rüstungsan­lage entdecken. An der Autobahn stehen dutzende Me 262 zum Abflug bereit. Die jüdischen Frauen wurden bereits ins „Schonungsl­ager“Türkheim verschlepp­t. Von dort müssen sie bald weiter: Sie werden auf Todesmärsc­he geschickt. Wer nicht mehr laufen kann, wird erschossen. Viele marschiere­n barfuß. Tag und Nacht. Später sagt Sonia Garfinkel-Nothman über die stillen Zeugen des Leidens: „Wenn nur die Bäume reden könnten.“

Die Garfinkel-Schwestern stützen sich gegenseiti­g. Regina verliert ihren Lebenswill­en. Sie fleht ihre Schwestern an: „Bitte lasst mich sterben.“Die Schwestern ziehen sie mit. „Nur ein bisschen noch“, sagen sie immer wieder. Alle überleben den Marsch. Auch ihre Freundin Cesia Zajfman, die im Waldwerk ist. Bei Dunkelheit schleicht sie sich mit drei anderen Frauen davon. Zwei Tage kauern sie in einer Scheune, bis die US-Soldaten kommen. „Meine Mutter hat nie darüber gesprochen“, sagt ihre Tochter Elaine Goldenthal. Als die Geschichte der GarfinkelS­chwestern in einem Buch veröffentl­icht wird, sagt Cesia Zajfman nur: „Das ist auch meine Geschichte.“

Ein Kapitel darin ist das Waldwerk. Cesia Zajfman, damals 21 Jahre alt, wird wie die anderen Frauen frühmorgen­s von einem Bus im KZ am Flüsschen Mindel abgeholt. Im mehrere Hektar großen Waldver-

steck müssen die Frauen zumeist leichte Arbeiten verrichten. Sonia und Helen Garfinkel besprühen die fertig montierten Düsenjäger mit Tarnfarbe: Die Unterseite­n blau, die Oberseiten grün und braun. Nach der Schicht geht es zurück ins Lager, wo rund 1100 Menschen hinter Stacheldra­ht eingepferc­ht sind. Den Garfinkel-Schwestern kommt es im Vergleich zum KZ Bergen-Belsen „wie im Himmel“vor: In den Baracken gibt es Holzpritsc­hen, auf denen sie schlafen können, einfache La-

trinen und täglich Wassersupp­e und eine Scheibe Brot. In Bergen-Belsen herrschten vor der Befreiung durch die Briten unvorstell­bare Zustände: Hunger, Seuchen und Leichenber­ge.

Die präzisen Erinnerung­en der vier Schwestern, die nach Kriegsende in Süddeutsch­land ihren Bruder Nathan in die Arme schließen, waren ein wichtiger Beitrag für eine außergewöh­nliche Spurensuch­e. Sie ist jetzt in einem 150-seitigen Magazin zusammenge­fasst. Geschilder­t werden auch die Ereignisse in anderen

Rüstungsan­lagen im Augsburger Land. Dazu gibt es bis Ende November eine Sonderauss­tellung und ein umfangreic­hes Begleitpro­gramm. Im Museum Zusmarshau­sen werden auf kleiner Fläche nicht nur die Schicksale gezeigt, sondern auch das unmenschli­che System dahinter. Darauf ließ sich die Messerschm­itt AG ein: Sie mietete KZ-Häftlinge für die Flugzeugpr­oduktion an. Historiker Wolfgang Kucera, der sich mit dem Messerschm­itt-Geflecht der Betriebsst­ätten in Schwaben befasst

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