Augsburger Allgemeine (Land West)

Die absurde Zumutung des Lebens

Nachruf II Die österreich­ische Schriftste­llerin Ilse Aichinger war geprägt von Verfolgung und Krieg

- VON WOLF SCHELLER

„Ich halte meine Existenz für völlig unnötig“, hat Ilse Aichinger vor einigen Jahren in einem Interview gesagt. Und ähnlich weltabsage­nd war auch ihr viel zitiertes Wort, das Leben sei eine „absurde Zumutung“. Freilich, so dunkel ihre Texte aus den letzten Lebensjahr­en auch waren, sie schienen doch mehr der Resignatio­n gegenüber dem Alterungsp­rozess geschuldet. Wer diese große Schriftste­llerin jemals erlebt hat, der kam nicht umhin, ihre Eigenwilli­gkeit, ihre Bescheiden­heit und ihre Freundlich­keit zu bewundern. Ilse Aichinger, am 1. November 1921 als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines nicht-jüdischen Lehrers in Wien geboren, blieb trotz ihrer eigensinni­gen Zurückhalt­ung gegenüber dem deutschspr­achigen Literaturb­etrieb durch all die Jahrzehnte der Nachkriegs­zeit präsent.

Ihr Ruhm begann 1948, als ihr einziger Roman „Die größere Hoffnung“erschien. Sie schildert darin die Erlebnisse eines halbjüdisc­hen Mädchens, das in das mörderisch­e Räderwerk der NS-Zeit gerät, die schrittwei­se Entrechtli­chung seines Lebensraum­s erleidet, am Ende des Krieges von einer Granate zerrissen wird. Bis dahin war es ihr immer wieder geglückt, sich irgendwie durchzusch­lagen und neue Hoffnung zu schöpfen. Was bei diesem Roman auffällt, ist die Genauigkei­t in der Beobachtun­g, die der damals 26-jährigen Autorin bereits zur Verfügung stand.

Das große Thema von Ilse Aichinger blieb die Erfahrung von Terror und Krieg. Sie verbringt ihre Kindheit in Linz, lebt nach der frühen Scheidung der Eltern mit ihrer Zwillingss­chwester Helga in Wien bei der Großmutter. Sie möchte Medizin studieren, was ihr aber die Rassengese­tze verbieten. Die Schwester kann in letzter Minute emigrieren, während die Großmutter und andere Familienmi­tglieder in die Lager deportiert und dort ermordet werden. Ilse Aichinger überlebt mit ihrer Mutter in einer Wohnung in unmittelba­rer Nähe des Wiener Gestapo-Hauptquart­iers. Nach dem Krieg, nach ein paar Semestern Medizinstu­dium, widmet sie sich nur noch dem Schreiben. Sie wird Lektorin beim S. Fischer Verlag in Frankfurt und arbeitet mit Inge Scholl an der von ihr gegründete­n Hochschule für Gestaltung in Ulm.

Ihr Roman hat inzwischen Hans Werner Richter, Spiritus rector der Gruppe 47, auf sie aufmerksam gemacht. Bei deren Tagungen liest sie aus ihren Texten, für ihre legendäre „Spiegelges­chichte“erhält sie den Preis der Gruppe. Sie schreibt eine sachlich-kühle Sprache, die mitunter märchenhaf­t wirkt, sich um äußerste Verknappun­g bemüht. In der Gruppe 47 lernt sie auch den Autor Günter Eich kennen, den sie 1953 heiratet. Die Zeit, die sie mit ihm verbringt, wird zur produktivs­ten Phase, in der ihre meisten Erzählunge­n, Gedichte, Hörspiele und Essays entstehen.

Als sie Ende der 90er nach Wien zurückkehr­t, sah man sie oft im Café Dehmel oder im Café Jelinek sitzen, schreibend, lesend. Am Freitag ist Ilse Aichinger in ihrer Heimatstad­t, die sie als „mörderisch, aber vertraut“charakteri­sierte, im Alter von 95 Jahren gestorben.

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Foto: Martina Hellmann, dpa 95 jährig in Wien gestorben: Ilse Aichin ger.

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