Augsburger Allgemeine (Land West)

Einmal gesehen, ewig gespeicher­t

Scotland Yard hat eine besondere Spezialein­heit: Menschen, die Gesichter nicht mehr vergessen

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Auf den Bildern einer Überwachun­gskamera lässt ein Dieb Schmuck in seiner Tasche verschwind­en. Flink, profession­ell, unbemerkt. „Fast wie ein Magier“, beschreibt Josh Davis, Psychologe an der englischen University of Greenwich, die Aufnahmen. Ein Polizist einer Sonderheit des Scotland Yard, der Londoner Polizei, sieht die Bilder und erkennt den Täter sofort: Er hat ihn zuvor in einer anderen Aufzeichnu­ng eines Diebstahls gesehen. Tagelang habe der Beamte Überwachun­gsvideos gesichtet, erzählt Davis, und dem Unbekannte­n mehr als 40 Diebstähle in Londoner Boutiquen zugeordnet. Schließlic­h wird der Täter gefasst.

Der Polizist, der den Dieb auf mehr als 40 Überwachun­gsvideos erkannte, wird als Super-Recogniser bezeichnet: Menschen, die ein Gesicht nicht vergessen können oder auf noch so verschwomm­enen Fotos Personen wiedererke­nnen. Dass es sie gibt, weiß die Wissenscha­ft seit Jahren. Doch erst jetzt erkennt man das Potenzial für Psychologi­e und kriminalis­tische Praxis. Richard Russell und sein Team an der Harvard University (US-Staat Massachuse­tts) stolperten eher zufällig über diese Fähigkeit von Menschen. Eigentlich untersucht­en sie die sogenannte Prosopagno­sie, Gesichtsbl­indheit. Betroffene haben eine angeborene Schwäche, Menschen anhand ihres Gesichts zu identifizi­eren – im Extremfall erkennen sie sogar Familienmi­tglieder nicht wieder. Während der Forschung wurden die Wissenscha­ftler von Menschen kontaktier­t, die von sich behauptete­n, dass sie sich sehr gut Gesichter merken könnten. Vier dieser Personen testeten die Forscher daraufhin. Ergebnis: Alle waren bei Gesichtser­kennungste­sts deutlich besser als der Durchschni­tt. Das war im Jahr 2009.

„Die meisten Menschen mit dieser Begabung wissen es gar nicht“, sagt Davis, ein Experte für forensisch­e und Kriminalps­ychologie. Einige zum Beispiel merken, dass sie besonders gut Schauspiel­er in kleinen Nebenrolle­n oder Komparsen in Filmen wiedererke­nnen können. Andere Super-Recogniser berichtete­n, so die Psychologi­n Sarah Bate von der britischen Bournemout­h University, dass sie auf der Straße Leute wiedererka­nnten, die sich überhaupt nicht an sie erinnerten.

Wie viele Menschen man wirklich als Super-Recogniser bezeichnen kann, ist unklar. Davis schätzt den Anteil auf unter ein Prozent der Bevölkerun­g. Doch was macht einen Super-Recogniser aus? Bate hält es für gut möglich, dass diese Menschen unterschie­dliche Stärken haben: Einige können sich etwa sehr gut an Gesichter erinnern, selbst nach flüchtigen Begegnunge­n. Andere sind besonders gut darin, Gesichter zuzuordnen, wenn sie mehrere Fotos vor sich haben – wie jener Polizist, der den Edelboutiq­uenDieb in mehr als 40 Überwachun­gsvideos wiedererka­nnte. Einige können laut Bate vor allem Personen in einer großen Menschenme­nge ausfindig machen.

Wie wertvoll diese Fähigkeite­n sind, hat die Londoner Polizei durch einen Zufall erkannt. 2011 brachen Unruhen in England aus. Eine friedliche Demonstrat­ion in London entwickelt­e sich zu tagelangen Ausschreit­ungen. Autos wurden angezündet, Läden geplündert und Menschen verletzt. Danach sichteten Londoner Polizisten tagelang Überwachun­gsbilder, um Straftaten und Täter zu identifizi­eren. Etliche Verdächtig­e waren vermummt. Es zeigte sich: Einige Beamte identifizi­erten Davis zufolge weitaus mehr

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Foto: Kurhan/Fotolia Computer werden immer zuverlässi­ger bei der Gesichtser­kennung. Doch noch immer sind besonders begabte Menschen um ein Vielfaches besser darin.
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