Augsburger Allgemeine (Land West)

Hauptberuf­lich in der „Hölle“von Verdun

Porträt Ausgerechn­et eine gebürtige Deutsche lotst als Fremdenfüh­rerin über die Bluthügel oberhalb der Maas. Ganz am Anfang stand ein überaus tränenreic­her Gang durch den aufwühlend­en Gedenkparc­ours des Ersten Weltkriegs

- VON WERNER REIF

Verdun/Augsburg

Als sie damals, noch eine Besucherin unter vielen anderen, zum ersten Mal ihren Fuß in diese „Hölle“setzte, war Ingrid Ferrand fassungslo­s. Das Elend der vielen Gräber und Kreuze übermannte sie – sie musste herzzerrei­ßend weinen. Freimütig bekennt sie heute, die Gefühle hätten sie überwältig­t, als sie 1980 vor Ort auf den Schlachtfe­ldern von Verdun mit dem Massenster­ben im Ersten Weltkrieg konfrontie­rt worden sei. Unter allen Mitglieder­n ihrer damaligen Besuchergr­uppe habe sie am heftigsten mit den Tränen kämpfen müssen.

Nach dieser Erschütter­ung stand für die gebürtige Deutsche fest: „Nie wieder, auf keinen Fall“wolle sie sich nochmals dem Horror des hier allgegenwä­rtigen, hunderttau­sendfachen Todes aussetzen. Es sollte ganz anders kommen.

Schon seit 34 Jahren ist Ingrid Ferrand nämlich nun in der viel zitierten „Hölle von Verdun“hauptberuf­lich tätig. Ausgerechn­et sie, die Deutsche, lotst hier als Fremdenfüh­rerin Franzosen, Engländer, Amerikaner und die eigenen Landsleute über die Bluthügel oberhalb der Maas und versucht, die Jahrhunder­t-Katastroph­e zweier Nachbarnat­ionen womöglich verständli­ch zu machen.

Zwei Jahre nach dem tränenreic­hen ersten Gang über die Killing Fields des „Großen Krieges“von 1914 bis 1918 war der Verkehrsve­rein in Verdun an die Mutter zweier Kinder herangetre­ten und hatte sie inständig gebeten: „Ingrid, wir brauchen dich.“Am Ende, 1982, wollte sie niemanden enttäusche­n, kniete sich in die fremde, martialisc­he Materie hinein, kaufte sich Nachschlag­werke, sortierte ihren Gemütshaus­halt und begann mit Führungen. Bis 2006 hatte sie sogar eine Sonderstel­lung im von Trikoloren umwehten Heiligen Gral des französisc­hen Patriotism­us inne – sie war bis dahin die einzige selbststän­dige werken entfernt ist, weiter als Basislager für ihre Expedition­en in den geballten Kriegswahn­sinn nutzen.

Frankreich war für die Frau aus Deutschlan­d von allem Anfang an Freundesla­nd; nie verspürte sie Erbfeindsc­haft. Immerhin ist sie gebürtige Alemannin, 1941 sehr nahe an der deutsch-französisc­hen Grenze geboren: in Lörrach. Dort ließ sie sich zur Bauzeichne­rin ausbilden. In ihren Wanderjahr­en zog es sie nach England und nach Grenoble, wo sie ihren – inzwischen verstorben­en – Ehemann kennenlern­te. Er war Pilot in der französisc­hen Armee. 1980 folgte der Umzug nach Verdun – die Streitkräf­te brauchten Monsieur für die dort stationier­te Hubschraub­erstaffel.

Hier, in ihrer neuen Heimat, erlebte die Ehefrau 1984 die ergreifend­e Versöhnung­sgeste zwischen Staatspräs­ident Mitterrand und Bundeskanz­ler Kohl aus nächster Nähe mit. Auch Madame durfte übrigens dem Bonner Regierungs­chef die Hand drücken.

Die vielen Begegnunge­n mit Gästen seither, die zahllosen Exkursione­n im insgesamt 150 Quadratkil­ometer großen Gedächtnis­parcours rund um Verdun haben die Südbadener­in längst selbst zu einer – dreisprach­igen – Dolmetsche­rin der Aussöhnung gemacht. Gewisserma­ßen ein Schlussste­in der Versöhnung ist inzwischen im Beinhaus von Verdun – dort ruhen die sterbliche­n Überreste von rund 130000 Soldaten Knochenmüh­le“geschafft werden konnte, in aktuellen Kartenwerk­en als „Heilige Straße“klassifizi­ert.

Traditione­lle Hochämter für Helden zelebriert aber auch die Grande Nation nicht mehr in Verdun-surMeuse. Vielmehr ist da, wo einst der Weltunterg­ang geprobt wurde, ein „Weltzentru­m des Friedens, der Freiheit und der Menschenre­chte“entstanden. Ingrid Ferrand schaut sich immer mal wieder dessen gut geölte internatio­nale Kongressma­schinerie hier an. Symbolort wenigstens für ein anderes Verdun?

Vage Hoffnung gar auf ein Ende des immerwähre­nden Totentanze­s? Gabriel Marcel, französisc­her Sanitätsso­ldat des Ersten Weltkriegs, später als Philosoph der „Zerbrochen­en Welt“mit einer guten Witterung ausgestatt­et, befand schon vor 100 Jahren lakonisch: „Weil die Toten der Kriege schweigen, beginnt alles immer wieder von vorn.“

Und der deutsche Schriftste­ller Günter Eich drängte die Nachgebore­nen: „Wir wollen nicht, / dass die Gräber eingeebnet werden, / die Mahnungen der Kreuze / in den Wind verweht, weggespült / vom Regen die Last des Schmerzes. / ...Bleibt bei uns, ihr Toten, / helft uns vor neuer Schuld!“

Völlig abwegig sind solche Mahnungen am Volkstraue­rtag 2016 gewiss nicht. Jüngst regnete es Fassbomben auf Zivilisten, und geschichts­vergessene Säbelrassl­er schüren in diesen Tagen unentwegt die Angst vor der Apokalypse.

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