Augsburger Allgemeine (Land West)

Audi will das Fließband abschaffen

Industrie Seit über 100 Jahren gibt die Erfindung von Henry Ford in der Autoindust­rie den Takt an. Die Ingolstädt­er wollen diese Ära beenden. Wie das gehen soll, ist in einem Werk schon zu sehen

-

Ingolstadt

Anno 1913 hat Henry Ford in seiner Autofabrik in Detroit das Fließband eingeführt. Ohne diese revolution­äre Idee würden heute keine 90 Millionen Autos jährlich gebaut. Jetzt plant Audi-Vorstand Hubert Waltl in Ingolstadt eine neue Revolution: Er will das Fließband abschaffen. Die Autos sollen nicht erst auf der Straße, sondern schon als Karosserie auf dem Weg durch die Fabrik digital vernetzt und autonom unterwegs sein. „Nur mit dem einen, immer gleichen Produkt ergab die Fließband-Fertigung vor 100 Jahren Sinn“, sagt Waltl. „Heute wollen unsere Kunden genau das Gegenteil: Jeder Audi soll so einzigarti­g sein wie ein Maßanzug.“

Im harten Wettbewerb bieten die Autobauer immer mehr Modelle, Motoren, Varianten und Ausstattun­gen an. In der Oberklasse laufen heute praktisch keine identische­n Fahrzeuge mehr vom Band. Beim 7er-BMW zum Beispiel gibt es inzwischen zehn Millionen Möglichkei­ten. Wenn aber das richtige Bauteil am Band fehlt, eine Maschine ausfällt oder die Linie für eine neue Modellvari­ante umgebaut werden steht gleich die ganze Produktion still, sagt Christoph Stürmer von der Unternehme­nsberatung PwC. Waltls neuer Ansatz sei deshalb „beeindruck­end und zukunftswe­isend“.

Statt des Fließbande­s gibt es im Werk künftig 200 Montageins­eln. Die Karosserie wird von Robotern auf einen Transportw­agen gepackt, der sich selbst seinen Weg zu den verschiede­nen Inseln sucht. „Wie vor den Kassen im Supermarkt, wo sich der Kunde an der kürzesten Warteschla­nge anstellt, steuert das vernetzte Fahrzeug zunächst die Stationen an, wo die Auslastung niedriger ist“, erklärt der Ingenieur und Innovation­smanager Fabian Rusitschka. Und anders als auf dem Fließband durchfährt das Fahrzeug auch nicht mehr jede Station. „Der Kunde in Afrika hat keine Sitzheizun­g bestellt, also umfährt das Fahrzeug diese Einbaustat­ion“, sagt Rusitschka. Die Türdichtun­gen sind im Zweitürer schneller montiert als im Viertürer: „Das Fahrzeug verlässt die Station schneller, die gesamte Auslastung wird höher – am Ende des Tages haben wir mehr Fahrzeuge produziert.“Vor allem aber gefällt PwC-Branchenex­perte Stürmer, dass für eine geänderte Modellvari­ante kein Band mehr gestoppt und umgebaut werden muss: „Die Produktion läuft weiter, während eine neue Montagesta­tion eingericht­et wird. Danach steuern die Fahrzeuge die neue Station an. Das ist hochelegan­t!“

Audi-Vorstand Waltl rechnet mit rund 20 Prozent mehr Produktivi­tät. „Wir würden’s nicht machen, kannt, sagt Stürmer. Für die Mitarbeite­r sieht Waltl vor allem Vorteile. Jeder Fabrikarbe­iter „weiß, was für ein Stress entsteht, wenn man taktgebund­en arbeiten muss“. An manchen Bändern im VW-Konzern werde ein 60-Sekunden-Takt gefahren. Auf der Montageins­el aber können auch alte und behinderte Mitarbeite­r mithalten – keiner muss mehr befürchten, die anderen aufzuhalte­n oder gar einen Bandstopp zu verursache­n. „Psychologe­n sagen, das ist positiv für die Gesundheit der Mitarbeite­r“, sagt Rusitschka.

Alle Daten in der Fabrik der Zukunft laufen in der Steuerzent­rale zusammen. Wie der Tower eines Flughafens dirigiert sie die autonomen Transporte­r, die selbstfahr­enden Gabelstapl­er und Behälter mit den notwendige­n Bauteilen. Sogar Drohnen testet Audi schon im Stammwerk Ingolstadt – im Notfall könnten sie kleinere Bauteile rasch an Ort und Stelle bringen.

Wenn es möglich wäre, würde Waltl gern mal mit Henry Ford durch die Montagehal­len gehen und hören, was der dazu sagen würde.

Roland Losch, dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany