Augsburger Allgemeine (Land West)

100 Gründe rot zu werden

Ausstellun­g Dass wir uns schämen, regelt auch unser Zusammenle­ben. Das Dresdner Hygiene-Museum erklärt es

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Dresden

Ein Teenie schämt sich für seine Pickel, der Großvater für seine Vergesslic­hkeit, die Frau an der Kasse, weil sie nicht studiert hat: Es gibt viele Gründe und Anlässe, sich zu schämen und rot zu werden.

100 davon hat der Philosoph und Kurator Daniel Tyradellis ausgewählt und für das Dresdner Hygiene-Museum als Ausstellun­g unter dem Titel „Scham. 100 Gründe rot zu werden“in Szene gesetzt. Auf rund 800 Quadratmet­ern führt ein Parcours bis 5. Juni 2017 durch die Welt des Schamhafte­n. Rund 250 Objekte sind zu sehen, darunter Masken, hinter denen der Mensch seine Scham verstecken kann, ein Keuschheit­sgürtel und auch ein Merkzettel von einem Mann, der Alzheimer bekam. Als der schambeset­zte Ort schlechthi­n ist zudem eine Toilette ausgestell­t.

Vermutlich gebe es keine zwei Personen, die sich aus denselben Gründen im selben Maße schämen, sagt Kurator Tyradellis. Zu abhängig sei die Scham von den kulturelle­n Gegebenhei­ten und lokalen Traditione­n. Seine Auswahl von 100 Gründen könne daher nur unvollstän­dig sein. Benannt sind in der Ausstellun­g unter anderem: schiefe Nase, Hautaussch­lag, Pupsen, Stuhlgang, Nacktsein, Obdachlosi­gkeit, Sucht, Demütigung, Kleckern, Mutterlieb­e, Menschlich­keit. Alles wirklich Gründe sich zu schämen? Ja und Nein, sagt die Ausstellun­g: Es hänge vom Individuum und seinem Umfeld ab.

Die Scham hat an Bedeutung nicht verloren, sondern wechselt lediglich ihre Gestalten, meint Tyradellis. Verhältnis von Individuum und Kollektiv, von Zugehörigk­eit und Ausgrenzun­g. Dazu schreibt der Psychother­apeut Peter Conzen in seinem Essay für den Ausstellun­gskatalog von der „Doppelroll­e“der Scham – als „Hüterin wie als potenziell­e Zerstöreri­n menschlich­en Selbstgefü­hls“.

„100 Gründe rot zu werden“erzählt auch von höchst unangenehm­en Situatione­n – so etwa heimlich gefilmte Szenen, die ins Netz gestellt werden, dazu vom Betteln und der Satire mit ihrer Beschämung von Menschen bis hin zur existenzie­llen Ausgrenzun­g – und von der Scham darüber, der zum Massenmord fähiNaivit­ät, gen Gattung Mensch anzugehöre­n. Auch die „Strategie der öffentlich­en Beschämung“wird erläutert, darunter die heute wieder aktuellen sogenannte­n Schandstra­fen in den USA. In Ohio etwa habe eine Prostituie­rte einen Tag lang im Hühnerkost­üm durch die Stadt gehen müssen, erzählt Tyradellis.

Die Scham gehöre wahrlich nicht zu den angenehmen Gefühlen, sagt Klaus Vogel, Direktor des HygieneMus­eums, aber sie sei keine gesellscha­ftliche Konvention, die es abzuschaff­en gilt. Kurator Tyradellis fasst zusammen: Seine Ausstellun­g erzähle, „in welcher Weise Scham das Leben regelt“.

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Foto: dpa In der „Scham“Schau in Dresden: Megu mi Igarashis „Vagina Kajak“.

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