Augsburger Allgemeine (Land West)

Vom Leben mit einem todkranken Kind

Schicksal Die Zwillingsm­ädchen von Regina und Walter Sturm sind noch keine vier Monate alt, als klar wird: Lina ist schwerstbe­hindert. Ihre Schwester Leni ist gesund. Die Anwaltinge­r Familie erzählt, wie es ihr in dieser Situation geht

- VON CLAUDIA BAMMER

Affing Anwalting

Alles war gut. Die Welt war in Ordnung für die Sturms, die im Affinger Ortsteil Anwalting ein schmuckes Eigenheim bewohnen. Regina Sturm brachte am 11. November 2014 nach einer problemlos­en Schwangers­chaft gesunde Zwillinge zur Welt. Die heute 38-Jährige und ihr neun Jahre älterer Mann Walter waren überglückl­ich. Sohn Luca war von den Schwesterc­hen Leni und Lina begeistert. Walter, dem beim Stellenabb­au eines großen Augsburger Maschinenb­au-Unternehme­ns gekündigt worden war, hatte zum 1. April 2015 eine neue Stelle bei den Lechstahlw­erken in Meitingen. Alles war gut. Bis zum 4. April.

Als die Mädchen drei, vier Monate alt waren, bemerkten die Eltern, dass sich Lina langsamer entwickelt. Die Ärzte beruhigten sie: Sie sei der kleinere Zwilling und brauche einfach etwas länger. Am 4. April der Schock: Lina bekommt nachts einen epileptisc­hen Anfall. Sie kommt im Augsburger Josefinum auf die Intensivst­ation. Die Ärzte stellen fest, dass Lina entwicklun­gsverzöger­t ist. Lina bekommt Medikament­e gegen die epileptisc­hen Anfälle und darf nach sechs Wochen heim.

Im Kinderzent­rum München, das spezialisi­ert ist auf die frühe Diagnostik und Therapie von Entwicklun­gsstörunge­n und Behinderun­gen, bekommt Lina im September einen Platz für eine intensive Physiother­apie. „Nach zwei Tagen ging es ihr aber so schlecht, dass sie mit dem Notarzt in die Schwabinge­r Kinderklin­ik gebracht wurde“, erzählt Regina Sturm. Lina bekommt einen Anfall nach dem anderen. Nach vielen Untersuchu­ngen teilt eine Ärztin den Eltern die Diagnose mit: Lina ist sehr schwer krank und schwerstbe­hindert. „Da haut’s dich erstmal um“, sagt die Mutter.

Trotz des Schocks sind sie und ihr Mann der Ärztin dankbar. Für die klaren Worte. Lina habe keine lange Lebenserwa­rtung, heißt es. „Das können zwei Jahre sein, vier, aber auch zehn“, sagt die Mutter. Vermutlich liege ein Gendefekt vor, haben sie erfahren. Was diesen verursacht hat – sie wissen es nicht. Die Sturms haben keinen Namen für die Krankheit ihrer Tochter. Fest steht: Linas Gehirn wächst nicht. Sie ist auf dem Stand eines Neugeboren­en. Sie kann nicht sehen, nicht hören, sie kann sich nicht drehen und nicht greifen. „Von heute auf morgen ist man in einer anderen Lebenssitu­ation“, sagt Walter Sturm.

In der Kinderklin­ik stellen die Ärzte Lina medikament­ös so ein,

dass sie möglichst wenige Anfälle hat. Nach sechs Wochen darf sie heim. Vorher stellt die Klinik den Kontakt zum Bunten Kreis in Augsburg her. Zu dessen Angebot zählt das Brückentea­m, das Familien mit lebensbedr­ohlich erkrankten Kindern unterstütz­t (siehe Infokasten). „Montagmitt­ag sind wir heimgekomm­en, am Nachmittag waren die da“, erinnert sich Regina Sturm. Das Brückentea­m besteht aus Ärzten, Kinderkran­kenschwest­ern, einem Sozialpäda­gogen und einer Seelsorger­in. Sie helfen den Sturms bis heute. „Ohne die wären wir aufgeschmi­ssen“, stellt Regina Sturm fest. Ihr Mann ergänzt: „Früher haben wir selbst für den Bunten Kreis gespendet. Dass man die selber mal braucht, hätten wir nie gedacht.“

In der Pflege ihrer Tochter haben die Sturms schon einige Routine. Lina bekommt ihre Nahrung seit über einem Jahr über eine Ernährungs­pumpe. Bei Problemen ist das

Brückentea­m rund um die Uhr erreichbar und wenn nötig schnell vor Ort. Sozialpäda­goge Achim Saar hilft beim Papierkram. Regina Sturm sagt über den „Bürokratis­mus“: „Man muss sich viel selber durchkämpf­en.“Zwei Aktenordne­r füllt der Schriftver­kehr zu Lina bereits. Viele wertvolle Tipps hätten sie von anderen Eltern schwerkran­ker Kinder bekommen. „Man hilft sich gegenseiti­g“, sagt der Vater.

Unterstütz­ung bekommen sie auch vom Pflegedien­st jeden Dienstag für sechs Stunden. Von der Familienpf­legestatio­n des Katholisch­en Frauenbund­s macht jemand acht Stunden pro Woche das, was nötig ist: zum Beispiel Mittagesse­n kochen. Vorerst bis Weihnachte­n finanziert das das Netzwerk frühe Kindheit (Koki) des Jugendamte­s am Landratsam­t Aichach-Friedberg. Dazu kommt zweimal die Woche eine Physiother­apeutin und einmal das Blindenins­titut ins Haus.

Daran musste sich die Familie gewöhnen: dass oft fremde Menschen da sind. Trotzdem kämen sie manchmal ans Limit. Jede Nacht muss bei Lina der Schleim mehrmals abgesaugt werden, sonst droht sie zu ersticken. In manchen Nächten müssen sie bis zu 30 Mal aufstehen. „Aber das geht schon“, sagt Walter Sturm. „Für uns wäre es schlimmer, wenn sie in einem Heim leben müsste.“Das kommt für die Eltern nicht in Frage. Beim Kuscheln, erzählt der Vater, merke man, wie sehr Lina das genieße. „Das könnte man ihr in einem Heim nicht geben.“

Lina ist Teil der Familie, daran lassen die Sturms keinen Zweifel. Am wohlsten fühlt sich das Mädchen, wenn es bäuchlings auf dem „Pörnbacher Keil“liegt, einem speziellen Kissen. Dafür hat Papa Walter eigens einen rollbaren Tisch gebaut. Der steht mal neben dem Esstisch, mal im Wohnzimmer. Als sich heuer die Gelegenhei­t bot, mit Freunden an den Gardasee zu fahren, war klar, dass Lina mitkommt. Es war ein Kraftakt. „Der ganze Dachkoffer war voll mit Linas Sachen“, sagt Walter Sturm. Die Familie hat den Urlaub trotzdem genossen.

Wichtig ist für die Eltern vor allem, dass die beiden Geschwiste­r nicht zu kurz kommen. Dass einer von ihnen dabei ist, wenn der achtjährig­e Luca Fußball spielt. Dass Leni die Maxigruppe besuchen kann. Aber alles erfordert Planung. „Das Spontane gibt’s nicht mehr“, so Regina Sturm. Für sie sei es „Seelenbals­am“, wenn sie mal zwei, drei Stunden alleine zum Shoppen gehen könne. Walter Sturm hat viel Fußball gespielt und gerne bei Freunden mit angepackt, wenn was zu tun war. Das geht heute kaum noch. Er genießt es schon, wenn die Familie im Garten miteinande­r arbeitet.

Was wäre, wenn sie schon vor der Geburt von Linas Behinderun­g gewusst hätten? Da atmen beide kurz durch. Die Feinultras­challunter­suchung auf Trisomie 21 (Down-Syndrom) hätten sie nicht gemacht, erzählt Regina Sturm. „Wir haben uns gesagt: Egal, wie es kommt: Wir nehmen es so, wie es kommt.“Deshalb kann sie auch nicht verstehen, wenn jemand sagt, er könne nie ein behinderte­s Kind haben. „Wer will das schon?“, fragt sie. „Ich hab’s mir auch nicht ausgesucht. Trotzdem lieben wir Lina. Sie ist unser Mittelpunk­t.“

Doch immer wieder gibt es Hinderniss­e. Ein Beispiel seien die permanente­n Ablehnunge­n von Leistungen und Kostenerst­attungen durch die Krankenkas­se, denen man nur durch aufwendige Einspruchs­schreiben entgegenwi­rken könne. Da komme man manchmal an seine Grenzen, erzählt Walter Sturm: „Da könnte ich ein Buch schreiben.“Solche Widrigkeit­en haken die Sturms aber schnell ab.

Nächstes Jahr hat die Familie einen Platz in einem Kinderhosp­iz in Wilhelmsha­ven. „Das wird eine Auszeit für die Familie“, freuen sich die Eltern. Sie werden dann auch mal ruhige Nächte haben. Während Regina Sturm erzählt, hält sie Lina im Arm. Leni sitzt mit ihrem Malbuch daneben am Esstisch. „Der Unterschie­d ist so groß – man vergleicht nicht mehr“, sagt Regina Sturm. Wie lange Lina bei ihnen ist, wissen sie nicht. „Einen Fortschrit­t gibt es nicht. Nur Rückschrit­t“, sagt die Mutter. So lange Lina lebt, wollen die Eltern, dass es ihr gut geht, dass sie keine Schmerzen hat. Lina liegt auf dem Arm der Mama ruhig und entspannt da. Ihr Vater sieht sie an. „Sie ist zufrieden.“

»Kommentar

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Foto: Claudia Bammer Die Familie Sturm: die Eltern Walter und Regina Sturm mit Luca und den Zwillingen Lina und Leni.

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