Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Schmerzensfrau der Kunst
Biografie Marina Abramovic´ ist die berühmteste Performerin weltweit. Für ihre Aktionen schreckt sie vor keinem Martyrium zurück. Ihr Leben ist ein Abenteuer des Willens
Selbst ihr Tod wird eine Performance. Wenn es so weit ist, sollen drei Särge in den Städten aufgebahrt werden, in denen sie die längste Zeit gelebt hat: Belgrad, Amsterdam, New York. In welchem Sarg dann ihre Leiche liegen wird, soll niemand erfahren. So hat es Marina Abramovic´ verfügt.
Es ist ein angemessener letzter Akt im Werk einer Künstlerin, deren wichtigstes Medium der eigene Körper ist. Diesen Körper hat Marina Abramovic´, die große Schmerzensfrau der zeitgenössischen Kunst, nie geschont. Selbstüberwindung und Willensstärke, Torturen und Qualen, eine rücksichtslose Disziplin, lebensgefährliche Konsequenz, Martyrien der Ausdauer: Sie hat sich ausgepeitscht, in Exerzitien geschunden, mit Messern, Glasscherben und Rasierklingen verletzt. Sie lag nackt auf Eisblöcken, sie wurde ohnmächtig in einem brennenden Stern, sie kämmte ihre Haare so lange, bis die Kopfhaut blutete, sie lief 2500 Kilometer auf der Chinesischen Mauer, sie schrie sich die Lunge aus dem Leib, bis sie erschöpft zusammenbrach, und putzte tausende blutiger stinkender Tierknochen. Zur weltweit gefeierten Performance-Künstlerin, zum internationalen Star und zur verehrten Symbolfigur aber wurde die 1946 in Belgrad geborene Marina Abramovic´ durch Schweigen und Stillhalten, durch langes, ausdauerndes Sitzen im Museum.
„The Artist is present“, die Künstlerin ist anwesend. So unscheinbar klingt der Titel des Werks, mit dem Marina Abramovic´ 2010 im New Yorker Museum of Modern Art in der Retrospektive ihres Werks Kunstgeschichte geschrieben hat. 90 Tage lang saß die Künstlerin im Atrium des MoMA auf einem Stuhl an einem Tisch und blickte ruhig und stumm allen Besuchern in die Augen, die ihr gegenüber Platz nahmen und sitzenbleiben konnten, so lange sie wollten. Viele weinten, andere hielten dem Blick gar nicht stand. Die Leute kamen und gingen, Abramovic´ blieb. 736 Stunden. „Ich war da für jeden, der da war.“
The Artist is present: Sechs Tage die Woche, immer sieben Stunden am Stück. Kein Aufstehen, nichts essen, nichts trinken, keine Pinkelpause, keine Sekunde der Abwendung, keine Ausnahme – nur unerbittliche Gegenwärtigkeit. Still dasitzen, schauen. 63 war sie damals, eine Frau im Rentenalter, die aber 20 Jahre jünger wirkt. Manche Besucher kamen mehrmals, um sich für Stunden der Gegenwart dieser Frau auszusetzen – beobachtet von jeweils hunderten Zuschauern.
Marina Abramovic´ hielt drei Monate durch, keine Schwäche, kein Ausweichen: eine physisch und psy- chisch eigentlich unmögliche Herausforderung, eine übermenschliche Leistung, ein überlebensgroßes Kunstwerk, ein Triumph der Willenskraft. Um Abramovic´, die gut aussehende Frau im Kleid, wuchs die Aura einer Heiligen unserer Zeit. 850 000 Menschen kamen, sie standen Schlange, um vor ihr zu sitzen. Ihr gegenüber saß eines Tages auch ein Mann namens Ulay, ein Deutscher aus Solingen – der wichtigste Mensch in ihrem Künstlerleben.
Wer ist diese mit Kunstpreisen überhäufte Marina Abramovic´, die heute 70 Jahre alt wird? „Durch Mauern gehen“heißt ihre soeben erschienene Autobiografie (Luchterhand Verlag, 480 S., 28 Euro). Marina wuchs als Tochter zweier privilegierter Helden des Partisanenkampfs in Titos Jugoslawien auf. Die Ehe ihrer Eltern war problematisch („Sie lebten in einem permanenten Kriegszustand“), ihre ordnungsbesessene und kunstbegeisterte Mutter streng und unerbittlich. „Sie schlug mich grün und blau“und weckte sie nachts, wenn sie fand, dass das Kind im Schlaf die Laken zu sehr zerwühlt hatte. „Schon im Alter von sechs oder sieben wusste ich, dass ich später einmal Künstlerin werden wollte“, schreibt Abramovic´.
Sie ging später auf die Akademie in Belgrad, malte Bilder, hatte ein Atelier – und lebte noch mit 24 bei ihrer Mutter in der riesigen Belgrader Wohnung. Spätestens um zehn Uhr abends musste sie zu Hause sein. Während ihrer „verstörten und un- glücklichen“Jugendjahre litt Marina an schlimmer Migräne – „es war der Beginn meiner Schulung daran, große Schmerzen und große Angst zu akzeptieren und auszuhalten“.
Über ihr Engagement im Belgrader Kulturzentrum DOB kam die „akademische Kunstmalerin“Marina Abramovic´ in Kontakt mit internationalen Künstlern wie Joseph Beuys und entwickelte Ideen für Performances. Anfang der 1970er Jahre waren neue Formen der Kunst wie Aktion und Prozess überall im Aufbruch. Ihre erste Performance nannte Abramovic´ „Rhythm 10“– basierend auf einem alten Trinkspiel. Man sticht dabei schnell mit einem Messer zwischen die gespreizten Finger auf der Tischplatte… Nach der Performance war der Tisch mit Blut getränkt, aber die junge Künstlerin wie im Rausch: „Das Publikum und ich waren eins geworden.“
Abramovic´ verließ Belgrad, wurde zu Auftritten in Galerien in ganz Europa eingeladen. In Italien stellte sie sich Besuchern, denen frei stand, sie mit 72 Gegenständen zu traktieren – darunter ein Hut, ein Stift, aber auch eine Säge, ein Hammer und eine Pistole… „Jemand ritzte mir mit dem Messer in die Haut am Hals und saugte mein Blut. Die Narbe habe ich heute noch.“In Amsterdam lernt sie den drei Jahre älteren Ulay (bürgerlich: Frank Uwe Laysiepen) kennen. Die beiden werden ein Paar – und reisen zwölf Jahre durch die Welt, wo sie von Australien bis New York gemeinsam Performances entwickeln und aufführen. Biennale in Venedig, Documenta in Kassel – Marina und Ulay sind allgegenwärtig mit ihrer Körperkunst. Mit Beharrlichkeit und dem Talent, über Museen und Kulturinstitute Finanzierungen zu organisieren, realisieren sie weltweit Projekte und laufen sich auf der Chinesischen Mauer entgegen – er 2500 km von Westen, sie 2500 km von Osten. Als sie sich endlich treffen, ist das auch das Ende ihrer Lebensund Künstlerpartnerschaft. Nicht nur in ihren Performances vor Publikum und Kameras hat sich Abramovic´ Extremsituationen ausgesetzt. Sie lebte auch monatelang in abgeschiedenen buddhistischen Klostern und in der Gluthitze der Outbacks in Australien. Ihrer Kunst hat sie alles untergeordnet. Ihr Leben ist ein Kunstwerk. Als Lehrerin – unter anderem viele Jahre in Braunschweig – hat Abramovic´ viele Künstler beeinflusst. In ihr Tagebuch schrieb sie einmal: „Ich will alt werden, richtig alt, so dass nichts mehr eine Rolle spielt.“