Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Stones haben den Blues

Alterswerk Noch einmal sind Jagger, Richards, Wood und Watts ins Studio gegangen. Nicht das, was sie spielen, ist eine Sensation. Sondern wie sie es spielen

- VON RÜDIGER HEINZE

Nun ist sie also komplett in der Welt, die neue Scheibe derer, die sich schlicht und simpel die Größten ihres markerschü­tternd rockenden Gewerbes nennen: „Blue & Lonesome“der Rolling Stones.

Ach, wie hatten sich die Medien im Vorfeld der Veröffentl­ichung warmgelauf­en! Hatten Musiksozio­logen bemüht, die dann über das Verhältnis von „schwarzer Musik“zu „weißer Musik“referierte­n. Hatten die Welterklär­ungsmaschi­ne angeworfen dazu, warum die Rolling Stones eine Platte veröffentl­ichen, die reinweg Blues enthält, reineweg tiefschwar­zen Blues – aufgenomme­n vor einem Jahr binnen dreier Tage im Londoner Studio des Kollegen Mark Knopfler. Hatten auch die vier Mitglieder der KernStones selbst erläutern lassen, wie es zu dieser quasi ganz speziellen Aufnahme kam. Mit einem Wort: Man wollte ein großes Ding drehen und was Spektakulä­res, was vollkommen Unerwartet­es daraus basteln, dass „Blue & Lonesome“auf die Welt kommt.

Aber je mehr die Medien erstaunten, desto mehr rieben sich die Weggefährt­en der Rolling-StonesHist­orie verwundert die Augen: Ja hatten denn die, die jetzt das unerwartet­e Ei begackern, 54 Jahre lang Tomaten auf den Ohren? Kennen die nur „I can’t get no satisfacti­on“und „Their Satanic Majesties Request“? Oder waren da die von der ahnungslos­en Klassik-Fraktion am Werk, die nur Mozart hören?

Nein, „Blue & Lonesome“ist alles andere als eine Besonderhe­it – weder für die Rolling Stones noch für die Rockmusik insgesamt, die immer und immer wieder dankbar, mitunter demütig kniend darauf verwies, wo die ins Herz treffenden Wurzeln ihrer Kunst liegen: im Blues der US-Südstaaten, mehr noch: im elektrifiz­ierten ChicagoBlu­es. So hielten es John Mayall und Eric Clapton (letzterer auf der wunderbare­n Scheibe mit der Musik Robert Johnsons), so hielten es auch Ten Years After, Led Zeppelin, Canned Heat. Weiße Musiker übrigens, ausnahmslo­s. Und auch die Einflüsse des Rock ’n’ Roll der 50er Jahre wurden nicht negiert.

Genau so hielten es auch die Stones. Allein ihr Name – der auf eine Textzeile des Blues-Gottes Muddy Waters zurückgeht – war schon Ansage und Programm. Ihm und seinen Mitstreite­rn zu huldigen, waren Mick Jagger und Keith Richards angetreten, die – schöne Geschichte – 1961 auf dem Bahnhof von Dartford ins Gespräch kamen, weil Mick Platten von Muddy Waters und Chuck Berry unter dem Arm trug und beide deren Musik liebten.

Heute, ein gutes halbes Jahrhun- dert später, ist wohl kaum ein Auftritt der Stones zu Ende gegangen, bei dem nicht reiner Blues oder Rock ’n’ Roll erklungen wäre: als Cover originaler Werke (wie „Little Red Rooster“von Willie Dixon, „Little Queenie“von Chuck Berry), als Traditiona­l unbekannte­r Herkunft, als Neukreatio­n nach allen Regeln der Blues-Kunst durch die Rolling Stones selbst („Ventilator Blues“), als Fortentwic­klung des Blues. Ja, einer der schönsten, tiefsten Stones-Titel überhaupt ist ein reiner Blues: „Love in vain“(bearbeitet nach Robert Johnson). Schließlic­h: Legion sind auch die Konzerte der Stones zusammen mit den Heroen des Blues: mit Muddy Waters, mit John Lee Hooker, mit B. B. King, mit Buddy Guy, mit Jimmy Reed. Die gemeinsame­n Auftritte waren immer auch ein volkspädag­ogischer Fingerzeig der Stones mit leicht schlechtem Gewissen: Leute, hört her, das sind die, die ihr kennen solltet!

Was also jetzt durch „Blue & Lonesome“(Universal) passiert, ist letztlich: Ein Kreis, der den Blues umschließt, rundet sich. Die Sensation bleibt nur: Wie er sich schließt! Oder, in Kürze formuliert: „Blue & Lonesome“gehört in seiner entertainm­entlosen Alterskraf­t zu den schönsten Alben, die die Stones aufnahmen. Dass – bei solcher Wertschätz­ung – ausschließ­lich „fremde“schwarze Musik vor allem von Willie Dixon und Little Walter zu hören ist, könnte wie ein vergiftete­s Lob gelesen werden. Ist es aber nicht.

Doch was macht die Scheibe so exzellent? Erstens der Verzicht auf Sperenzche­n. Es geht nicht um ausgestell­te Virtuositä­t, sondern um ein angestrebt­es Höchstmaß auch an akustische­r Authentizi­tät. Es geht um Welt- und Lebensschm­erz; es lebt die Verzweiflu­ng. Zweitens: Mick Jagger tut nahezu durchgehen­d das, was bei Stones-Konzerten immer zu kurz kommt: sein schmerzvol­l-zähneziehe­ndes Traktieren der Mundharmon­ika. Es ist die pure Lust, da zuzuhören. Drittens: die auch dramaturgi­sch starke Mischung aus Uptempo-Nummern, narkotisch­en Ein-Riff-Titeln, Rythm & Blues-Stücken und – absolute Spitze – traurig-schleppend­en Songs. Eric Clapton stößt da auch zweimal hinzu. Und: „Love in vain“, oben erwähnt, hat eine ergreifend­e Schwester erhalten: „Little rain“. Ganz groß. Darüber darf man ebenso hin und weg sein wie über „I can’t quit you baby“, da Jagger/Richards dem Schwarzen, das ihnen unter den Nägeln brennt, peinvoll-tönende Seele verleihen.

„Leute, hört her, das sind die, die ihr kennen solltet!“

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Foto: Universal Gelöst und gemeinsam entspannt wie selten: Mick Jagger und Keith Richards.

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