Augsburger Allgemeine (Land West)
Demokratie im Gegenwind
Festakt Zum 50-jährigen Jubiläum der Hanns-Seidel-Stiftung ruft Bundespräsident Gauck eine „träge gewordene Mitte“dazu auf, sich gegen eine Politik der „Gefühlswallungen“zu stellen
München
Bundespräsident Joachim Gauck und Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer haben gestern in München gemeinsam dazu aufgerufen, die Demokratie gegen ihre Feinde von Rechts und Links zu verteidigen. Beim Festakt zum 50-jährigen Bestehen der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung warnte Gauck davor, die Lüge als Instrument der politischen Auseinandersetzung hinzunehmen. „Wir wollen doch nicht, dass die Gefühlswallungen von den Rändern der Gesellschaft so stark werden, dass eine träge gewordene Mitte denkt, man kann da gar nichts machen, die Zei- ten sind eben schlecht“, sagte Gauck. Seehofer forderte engagierten Einsatz gegen jede Form von Extremismus. „Demokratie ist kein Geschenk, keine Selbstverständlichkeit“, sagte er, „Demokratie ist wertvoll. Sie ist ein Schatz, den wir uns in Deutschland nie wieder aus der Hand nehmen lassen dürfen.“
Wer genau zuhörte, was die beiden Herren vor der hochkarätig besetzten Festversammlung zu sagen hatten, der konnte weitgehende Gemeinsamkeiten, aber auch durchaus markante Unterschiede in der Beurteilung der aktuellen politischen Lage erkennen. Gauck sprach von „Gegenwind für die Demokratie“und nahm die „postfaktische“Ge- sellschaft ins Visier. Immer größere Bevölkerungsschichten seien aus Widerwillen gegen „die da oben“bereit, Tatsachen zu ignorieren und Lügen zu akzeptieren. Die Lüge in der Politik sei allerdings kein ganz neuer Hut, sagte Gauck und warnte: „Wer behauptet, es gebe allenfalls eine gefühlte Wirklichkeit, tut das, um die Regeln neu zu bestimmen. In dessen antidemokratischem Spiel sticht nicht das Argument, sondern die Emotion.“
Seehofer dagegen sieht hier offenbar keinen Gegensatz. „Argument und Emotion müssen ernst genommen werden. Der Bürger darf nicht den Eindruck bekommen, dass er uns beim Regieren stört“, sagte der CSU-Chef und berichtete von einer Begebenheit in Österreich, die auf ihn einen nachhaltigen Eindruck gemacht habe. Die Vorsitzende einer Jugendorganisation habe dort ihre Erwartungshaltung an die Politik so formuliert: „Politiker sollen sagen, was sie tun wollen, und dann tun, was sie sagen.“Nach Seehofers Auffassung geht es deshalb darum: „Wir brauchen wieder mehr Klarheit in der Politik – Klarheit in der Sache und klare Entscheidungen.“
Einig waren sich der Bundespräsident und der Ministerpräsident über die Bedeutung der Arbeit der politischen Stiftungen. Fast wortgleich sagten sie: „Gäbe es die politischen Stiftungen nicht, man müsste sie heute neu erfinden.“Ihre Arbeit sollte darauf gerichtet sein, „Teilnahme zu ermöglichen“(Seehofer) und „zum verantwortungsvollen Gebrauch der Freiheit“zu erziehen (Gauck).
Unter den zahlreichen Gästen, die der Hanns-Seidel-Stiftung gestern die Ehre gaben, waren die früheren Ministerpräsidenten Günther Beckstein und Edmund Stoiber, die ehemaligen CSU-Vorsitzenden Theo Waigel und Erwin Huber, die Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde Charlotte Knobloch, Landtagspräsidentin Barbara Stamm, der emeritierte Erzbischof Friedrich Kardinal Wetter und der Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Peter Küspert.