Augsburger Allgemeine (Land West)
Vom Schläger zum Menschenfreund
Porträt Bertold Brand neigte früher zu Brutalität. Er hasste alles „Deutsche“, vor allem Uniformen. Erstmals erzählt er seine Familiengeschichte als Sinti und woher seine Wut kam
Bertold Brand, 59, verbrachte seine Kindheit auf dem berüchtigten Wohnwagenpark im Norden des Stadtteils Oberhausen: „Fischerholz – Zigeunerpack! Das gehörte zusammen wie Deckel auf Eimer.“Drei Brunnen gab es in den 1960ern für die etwa 45 Sinti-Familien und die ebenfalls dort lebenden Jenischen, Deutschen und Obdachlosen. Eine schöne Kindheit war das, erklärt er. „Zwischen den Wohnwagen spielen, Lagerfeuer, das Singen mit den Nachbarn, Hühner, Hunde, Katzen – mehr Freiheit gab es nirgendwo.“Aber die häufigen Razzien, die Beleidigungen durch „die Deutschen“, die Pöbeleien der Mitschüler und die Abwertung seitens der Lehrer machten ihn fuchsteufelswild.
„Wir sind Sinti. Meine Eltern waren Häftlinge in Auschwitz und im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück und haben dort Schlimmes erlebt. Mein Vater musste zusehen, wie seine kleine Schwester von einem SS-Mann erschossen wurde“, berichtet der Augsburger. Tanten, Onkel und die vier Großeltern wurden im KZ ermordet. Eine Tante überlebte Dachau und holte seinen Vater nach dessen Befreiung aus Auschwitz nach Augsburg. Sie heiratete einen überlebenden Sinti, der im KZ kastriert worden war. Zusammen siedelten sie im Fischerholz, besaßen Wohnwagen und Auto. Der Vater war Schrottsammler und verkaufte das Metall an die umliegenden Verwertungsfirmen, Mutter und Tante gingen „hausieren“. Als reisende Händlerinnen verkauften sie Gummi, Socken und Spitzendeckchen oder tauschten die Waren gegen Naturalien ein.
Während die Mutter den sechs Kindern nichts von ihren Erlebnissen berichten konnte, erzählte der Vater von den Deutschen. „Bei ihm konnten wir ja die eingebrannte Häftlingsnummer auf dem Unterarm sehen und haben gefragt, was das ist. Unter Tränen erzählte er vom KZ, vom Schuss auf seine Schwester und wie ein SS-Wachmann aus Langeweile einem Gefangenen mit dem Stiefel den Hals brach. Er akzeptierte, dass wir jetzt weiter in Deutschland leben mussten. Aber er bläute uns ein, uns von den Deutschen fernzuhalten.“
Schon mit 13 Jahren bekam Bertold Brand seine erste Anzeige wegen Körperverletzung. Es folgten Prügeleien, Messerattacken, Widerstand gegen die Staatsgewalt. In Oberhausen war er bekannt und gefürchtet. Seine Frau, die zum Gespräch in einem Augsburger Café mitgekommen ist, erinnert sich mit Grauen zurück. „Wenn auf der an- Straßenseite Polizei vorbeifuhr, begannen seine Wangenmuskeln zu mahlen und zu zittern. Dann wusste ich: Gleich tickt er wieder aus.“Einmal, erzählt Brand, wollte er einen Polizisten schlagen, kam jedoch nicht an ihn ran. „Ich schlug die Schaufensterscheibe neben mir ein, damit mein Blut auf ihn spritzt und er denkt, ich hätte ihn mit HIV infiziert.“Brand zeigt die Narbe auf seinem rechten Unterarm.
„Es gab einen Drogenumschlagplatz unter einer Brücke. Da bin ich hin und habe erklärt, wer meine Kinder anfixt, den häng ich an mein Auto und schleife ihn durch die Stadt.“Ob er das ernst gemeint habe, damals? Brand zieht die Augenbrauen hoch und nickt. Bis zu seinem 32. Lebensjahr folgten 26 Strafanzeigen, oft stand er vor Gericht, neun Monate verbrachte er im Gefängnis. Gewalt war sein Ding, geklaut habe er aber nie.
„Sicher hängt diese unbändige Wut irgendwie mit der Familiengeschichte zusammen“, vermutet er. Erst 1990 konnte er mit dem Hass auf sich und die Welt abschließen. Zusammen mit Frau Marie besuchte er eine Versammlung der Sinti in Hof. Dort war ein Missionszelt aufgebaut, in dem Prediger für die Umderen kehr zu Jesus warben. „Meine Frau bekannte sich dort. Auch wenn die Musik im Zelt mich schon beeindruckt hat, fand ich, dass das alles Gedöns war“, erzählt Brand. Erst als die Veranstaltung sich auflöste, sucht er einen der Prediger auf. „Mich trieb ein Bauchziehen, wie ich es aus meinen früheren Gerichtsverhandlungen kannte. Ich dachte, jetzt sitzt Gott über mich zu Gericht.“Nach dem Bekenntnis – der Busfahrer hat sich einer freikirchlichen Gemeinde angeschlossen – war die Wut verflogen: „Ich kann heute verzeihen, weil ich gelernt habe, die Menschen zu lieben.“