Augsburger Allgemeine (Land West)

Albtraum K.-o.-Tropfen

Es kann jeden treffen. Plötzlich und aus dem Hinterhalt – so wie Anna. Ihr Partydrink war manipulier­t, sie verlor das Bewusstsei­n. Mit dem, was dann passierte, kämpft sie noch immer. Die Geschichte eines traumatisi­erten Opfers und einer tückischen Chemika

- Von Lea Thies

Das genaue Datum hat sie verdrängt. Anna* hofft, dass auch der Rest noch aus ihrem Kopf verschwind­et. Aber wie vergisst man etwas, das man eigentlich schon vergessen hat? Die Bilder, die Gefühle, die nur das Unterbewus­stsein immer wieder, ganz plötzlich, zutage führt? Was Anna aber noch genau weiß: Der schlimmste Tag in ihrem Leben war ein Samstag im September 2016. „Es war warm draußen. Ich trug ein Minikleid“, erzählt Anna, Ende 20, während sie in einem Café sitzt und einen Cappuccino umrührt. Sie ist groß, attraktiv und wirkt selbstbewu­sst. Eine typische Karrierefr­au. Noch vor einem Monat wäre sie nicht in der Lage gewesen, über das alles zu sprechen, sagt sie. Nun fühlt sie sich etwas stabiler. Außerdem will sie mit ihrer Geschichte anderen Opfern helfen und andere Frauen warnen, damit ihnen so etwas wie an dem Samstag im September nicht passiert.

An jenem Tag also war sie auf einer Party in ihrer alten Heimat gewesen. In der heilen Welt, wie sie sagt. Bekannte hatten eingeladen, es kamen Freunde und jeder brachte noch jemanden mit. Rund 200 Menschen feierten. Anna mixte sich einen schwachen Whiskey Cola, weil sie nur kurz bleiben und dann zu ihrem Freund wollte. Sie unterhielt sich mit alten Freundinne­n, sie hatte ihr Glas nicht immer im Blick, sie lachte viel, die Stimmung war gut – und dann, etwa 30 Minuten nach ihrer Ankunft, beginnt ihr Filmriss, von dem sie erst am Sonntagnac­hmittag bei Freunden erwachte, mit handteller­großen Wunden an den Knien, mit blauen Flecken an Brüsten, an den Innenseite­n der Oberschenk­eln und am Rücken. Ihr tat alles weh. Sie wusste zunächst nicht, was war. Hingefalle­n, dachte sie, als sie ihre kaputte Strumpfhos­e auszog. Dass ihr jemand etwas in den Drink getan haben musste, war ihr sofort klar. So fühlt man sich nicht nach einem einfachen Whiskey Cola. Was dieser Jemand aber noch getan haben muss, das schwante ihr erst, als ein paar Tage später die Albträume anfingen.

das, was Anna passiert ist, gibt es im Englischen einen Ausdruck: Drink Spiking. Das bedeutet: Ein Getränk wird mit einer farbund geschmackl­osen Chemikalie manipulier­t, um jemanden wehrlos zu machen und dann ausrauben oder vergewalti­gen zu können. Umgangsspr­achlich werden solche Mittel K.-o.-Tropfen oder Vergewalti­gungsdroge­n genannt. In Fachkreise­n tragen sie Namen wie Rohypnol, Ketamin, Gamma-Hydroxybut­ansäure (GHB) oder Gamma-Butyrolact­on (GBL).

Besonders letzteres kursiert als Rauschmitt­el und als K.-o.-Tropfen in der Partyszene, da die Substanz in Deutschlan­d nicht generell verboten und zudem einfach im Internet erhältlich ist. GBL ist ein Lösungsmit­tel, aus dem Pflanzensc­hutzmittel oder auch Antibiotik­a hergestell­t werden können. Es fällt weder unter das Arzneimitt­el- noch unter das Betäubungs­mittelgese­tz. Dabei ist es nach Ansicht von Suchtmediz­inern hochgefähr­lich. Es anderen Personen zu verabreich­en, gilt als Straftat. Der Besitz hingegen nicht.

Google spuckt GBL-Kaufangebo­te für die klare, leicht nach Seife riechende Flüssigkei­t aus, als sei es Hustensaft. 250 ml für knapp 39,95 Euro. „Hallo, kann ich dir weiterhelf­en?“, ploppt sofort ein Fenster auf, wenn man eine der Händlersei­ten besucht. Manche Verkäufer weisen sogar darauf hin, dass sich das Mittel als K.-o.-Tropfen eignet und erklären, wie der Zoll umgangen werde, damit die Lieferung garantiert nicht auffalle. In Deutschlan­d ist seit 2009 der GBL-Verkauf zu Konsumzwec­ken verboten – aber im Internet scheint das die Händler nicht zu interessie­ren.

Wie viel dieses Mittels an Privatpers­onen geliefert wird, wie häufig es konsumiert oder als K.-o.-Tropfen missbrauch­t wird – darüber gibt es keine Statistik. Die Polizei hat keine belastbare­n Daten. Häufig würden sich die Opfer nicht melden. Wenn sie es doch tun, sei es oftmals zu spät für einen Nachweis in Blut oder Urin. Wer ein Suchtprobl­em mit GBL hat, geht in der Regel ebenfalls nicht zur Polizei. Als Par- taucht das Mittel immer wieder auf. „Ich möchte nicht ausschließ­en, dass die Dunkelziff­er hoch ist“, sagt Sigrid Kienle, Sachgebiet­sleiterin synthetisc­he Drogen beim Landeskrim­inalamt in München. Beim Ausgehen sind K.-o.-Tropfen ein Dauerthema. Aufklärung­skampagnen tragen inzwischen Früchte: Viele lassen in Discos ihre Getränke nicht aus den Augen oder trinken nur aus Flaschen. Aus Angst vor Drink Spiking glühen manche Jugendlich­en inzwischen daheim vor.

„Jeder kennt jemanden, der schon einmal etwas im Getränk hatte“, sagt Anna. Man müsse sich nur umhören. In Discos habe sie deshalb immer auf ihr Getränk aufgepasst. „Aber auf der Party hatte ich ein Gefühl von zu Hause“, erzählt Anna. Sie spricht schnell und mit starker Stimme, wirkt gefasst. Innerlich ist sie aufgewühlt, zur Beruhigung legt sie Zigaretten­pausen ein. Was ihr im September widerfahre­n ist, hat sie noch nicht verarbeite­t.

Durch Erzählunge­n von Freunden hat sie die Nacht bis auf drei Stunden rekonstrui­ert. Sie sei plötzlich verschwund­en gewesen und dann unterkühlt und mit blutigen Knien aufgetauch­t. Als Freunde den Notarzt oder die Polizei holen wollten, habe Anna einen Tobsuchtsa­nfall bekommen. Sie sei kollabiert und habe sich übergeben. An all das kann sie sich nicht mehr erinnern. „Ich war nicht ich, hatten meine Freunde gesagt. Ihnen war klar, dass mir jeFür mand etwas ins Getränk getan hatte.“K.-o.-Tropfen müssen nicht automatisc­h zu einem Knockout, also zur Bewusstlos­igkeit führen. Im Internet kursieren Videos, die Menschen im Delirium, mit epileptisc­hen Anfällen oder halluzinie­rend zeigen. Michael Rath kennt alle Facetten. Er ist Facharzt für Suchtmediz­in am Inn-Salzach-Klinikum in Wasserburg am Inn und gilt als bundesweit­er GHB/GBL-Experte. Im Jahr 2005 hatte er durch Patienten an der Suchtklini­k in Haar zum ersten Mal mit den Stoffen zu tun, die sich Ende der 1990er Jahre über die Bodybuilde­r- und Schwulensz­ene langsam in der Party- und Technoszen­e ausgebreit­et haben. Als er danach an die Klinik in Bad Schussenri­ed wechselte, stellte er fest: In Oberschwab­en wurde anscheinen­d mehr GBL konsumiert als im Großraum München. Die Behörden können nichts dagegen unternehme­n, weil GBL nicht verboten ist – im Gegensatz zum als „Liquid Ecstasy“bekannten GHB, das seit 2001 unter das Betäubungs­mittelgese­tz fällt. GBL wird vom Körper zwar binnen Sekunden in GHB umgewandel­t – trotzdem ist es erlaubt. Eine „hochgradig paradoxe Situation“, kritisiert Rath. Er warnt seit Jahren vor der Chemikalie, die extrem schwer zu dosieren sei. Je nach Menge wirke GBL euphorisie­rend und berauschen­d – ein Milliliter zu viel kann bedeuten, „dass die Leute zusammenty­droge klappen oder sterben“. GBL wirkt nach rund 15 Minuten. Der Stoff macht, verwendet man ihn als Droge, schnell abhängig. Laut Rath weist GBL alle Kriterien eines Rauschmitt­els auf, es müsste eigentlich unter das Betäubungs­mittelgese­tz fallen. Der Gesetzgebe­r sieht das anders.

Anna beschloss am Sonntag nach der Party: „Da war nichts. Gut ist.“Zurück zur Tagesordnu­ng. Sie ging am Montag wieder normal arbeiten. Und doch war etwas anders. Sie ging nicht mehr an ihr Handy, beantworte­te keine Nachrichte­n mehr. Nach dem Duschen sah sie ihren Körper nicht mehr gerne im Spiegel an. Sie konnte nicht mehr ohne Schmerzen mit ihrem Freund schlafen. Nachts träumte sie plötzlich davon, wie ihr jemand die Beine auseinande­r drückt und sie würgt. Ihr ging es von Tag zu Tag schlechter. Sie erkannte sich nicht wieder. Am Donnerstag nach der Party vertraute sie sich einer Freundin an, die mit ihr erst zum Arzt und dann zur Polizei ging. „Von alleine hätte ich das nicht gemacht. Ich schämte mich“, erinnert sich Anna. Doch ihre Freundin überzeugte sie mit dem Argument: „Willst du, dass er das mit anderen Frauen noch mal tut?“

Untersuchu­ng, Aidstest, dann viereinhal­b Stunden Fragen beantworte­n. Nun fühlte sich Anna als Opfer. Die Polizei machte Fotos von den verblasste­n blauen Flecken. Für einen Bluttest war es zu spät. Ihre Kleidung hatte sie schon gewaschen. Als Beweismitt­el ließ Anna die kaputte Strumpfhos­e bei der Polizei, die sie extra aus dem Müll gezogen hatte und an der nun Kaffeerest­e klebten. Während der viereinhal­b Stunden hörte sie, dass so etwas einigen Frauen passiere, häufig auch im privaten Umfeld. Und sie hörte, dass manche K.-o.-Tropfen auch als Alibi fürs Fremdgehen verwenden. Anna bekam zwischenze­itlich das Gefühl, dass man ihr nicht glaubt. „Wenn ich auf der Party meinen Freund hätte betrügen wollen, hätte ich mir keine Story von K.-o.-Tropfen ausdenken müssen. Das ist ein ganz anderer Freundeskr­eis gewesen, er hätte es nie erfahren.“Mit Fremdgehen habe sie so wenig am Hut wie mit Drogen.

Das Tückische an K.-o.-Tropfen ist: Lassen sich die Opfer nicht sofort untersuche­n, hat der Körper die Chemikalie abgebaut und damit Beweismitt­el zerstört. Für GHB und GBL gilt etwa ein Zeitfester von zwölf Stunden. Dann ist eine Betäubung nicht mehr nachzuweis­en. Hinzu kommt: Kliniklabo­re können nach Auskunft von Markus Wehler, Chefarzt der Notaufnahm­e am Klinikum Augsburg, K.-o.-Tropfen nicht aufspüren. Blut- und Urinproben müssen an Speziallab­ore geschickt werden. Häufig wissen die Notärzte also nicht genau, welche Substanz die Symptome auslöst. „Immer wieder werden Patienten zu uns in die Notaufnahm­e eingeliefe­rt, bei denen eine Verabreich­ung von K.-o.-Tropfen vermutet wird oder die es selbst vermuten“, erklärt Wehler. „Aus unserer Erfahrung heraus sind Frauen häufiger betroffen als Männer.“K.-o.-Tropfen seien eine Randersche­inung, dennoch sei Wachsamkei­t geboten.

Anna erstattete Anzeige gegen Unbekannt. Nun war sie offiziell ein Opfer. „Ich bin kein Opfertyp. Mich in die Opferrolle zu begeben, ist für mich schwierig. Ich komme damit nicht klar“, sagt sie. Nur wenigen Menschen hat sie vom Samstag im September erzählt, sie hat Angst, danach anders behandelt zu werden. Anna ist sich nun sicher: An dem Samstag im September wurde sie vergewalti­gt. Inzwischen hat sie drei verschwomm­ene Bilder von der Nacht: 1. Sie liegt vorne über gebeugt über einer Bank oder einem Stuhl und sieht auf ihre Handtasche und auf ihr Dekolleté. 2. Sie sitzt an einem Lagerfeuer, jemand fragt, was mit ihr los sei, und ehe sie antworten kann, sagt ein unsympathi­scher Fremder: „Wenn man sich mit Alkohol aus dem Leben schießt und noch Drogen nimmt, dann ist man selber schuld, wenn man durchhängt.“3. Sie steht vor einem Haus auf der Straße und versucht ihren Freund anzurufen – diese Szene hat sich definitiv so abgespielt, wie Anna inzwischen weiß. Und die anderen? Fortsetzun­g auf Seite V2

 ??  ?? Dem Bundeskrim­i nalamt liegen aus dem Jahr 2014 zwölf Todesfälle in folge von GHB/ GBL Konsum vor.
Dem Bundeskrim­i nalamt liegen aus dem Jahr 2014 zwölf Todesfälle in folge von GHB/ GBL Konsum vor.
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Laut European Drug Emergen cies Network wa ren GBL/GHB 2014 die vierthäufi­gste Ursache von Vergif tungsnotfä­llen.
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Der Sänger George Mi chael galt als GHB/GBL Konsu ment. Freunde ver muten, dass er vor seinem Tod die Dro ge eingenomme­n hatte.

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