Augsburger Allgemeine (Land West)

Das Gedächtnis des Allgäus

Heimat Im Keller eines Fotogeschä­fts in Sonthofen lag jahrzehnte­lang ein außergewöh­nlicher Schatz. Aber niemand hat ihn beachtet. Bis ein Filmemache­r kam und zu stöbern begann. Über das fasziniere­nde Werk einer Fotografen-Familie

- VON KLAUS PETER MAYR

Alexander Freuding erinnert sich noch gut an den Tag, als er den Schatz fand. Als er 2005 fürs Bayerische Fernsehen einen Film über Landschaft­sfotografi­e drehte, besuchte er am letzten Tag das Fotohaus Heimhuber in der Stadtmitte von Sonthofen. Die Rede kam aufs Archiv, das in einem Kellerraum lagerte. Eugen Heimhuber, der damalige Inhaber des alteingese­ssenen Geschäftes, habe erst gar nicht aufsperren wollen, wegen der Unordnung und des Gerümpels. Als die Holztür mit der Aufschrift „Postkarten­lager“aufsprang, sei ihm die Kinnlade runtergefa­llen, sagt Alexander Freuding. Der kleine Raum war vollgestop­ft mit alten Fotos und Postkarten sowie Negativen auf Glasplatte­n, Metallplat­ten und Folien. Sie lagerten in Regalen, Schubladen, Holzkisten und Kartons.

Freuding hatte entdeckt, was sich nach näherer Untersuchu­ng als das wohl bedeutends­te fotohistor­ische Regionalar­chiv Deutschlan­ds entpuppen sollte. Die Arbeiten des königlich bayerische­n Hoffotogra­fen Josef Heimhuber (1853 – 1923) sowie seiner Söhne und seines Enkels schlummert­en fast vergessen und unbeachtet in diesem Lagerraum mit zwei Metern Breite und drei Metern Länge. Der schwäbisch­e Bezirkshei­matpfleger Peter Fassl bezeichnet die Bilder als kulturgesc­hichtliche­s Gedächtnis des Allgäus. „Es ist für Schwaben und insbesonde­re für das Allgäu einmalig.“

Für Alexander Freuding, 51, und die Heimhubers war schnell klar: Dieser Fotoschatz musste gehoben werden. Schließlic­h stammten die Bilder zum Teil noch aus dem 19. Jahrhunder­t. Josef Heimhuber war 1876 von Rögling im heutigen Kreis Donau-Ries nach Sonthofen gezogen und hatte 1877, also vor genau 140 Jahren, ein Atelier eröffnet. Das Fotografie­ren steckte damals noch in den Kinderschu­hen. Heimhuber arbeitete nicht nur im Studio. Dieser Fotopionie­r machte seine Bilder auch gerne unter freiem Himmel. Mit seinen klobigen Kameras fing er die Oberallgäu­er Landschaft um Sonthofen, Oberstdorf, Immenstadt und Hindelang ein. Und natürlich auch die Berge ringsum.

Heimhuber entwickelt­e eine Liebe zu den Bergen. Bald wollte er den Leuten im Tal Bilder von ganz droben zeigen (und auch an sie verkaufen). Von einer Welt also, die seinerzeit für viele völlig fremd war. Das Bergsteige­n kam erst langsam in Mode. Viele belächelte­n jene, die zum Spaß in die Berge gingen oder Ski unter die Schuhe banden, um auch im Winter loszuziehe­n.

Heimhuber hielt das nicht davon ab, seine Apparate Richtung Gipfel zu schleppen. Unglaublic­h, welche Strapazen Heimhuber – und ab dem Jahr 1900 seine Söhne Fritz und Eugen – auf sich nahmen, um einzigarti­ge Augenblick­e im Hochgebirg­e einzufange­n. Sie hatten nicht nur die sperrigen Kameras auf die Berge zu bringen, sondern auch ein lichtundur­chlässiges Dunkelkamm­erzelt sowie die zerbrechli­chen Glasplatte­n, auf die sie ihre Motive bannten. Ohne Helfer ging das gar nicht.

Oben schlugen sie das Zelt auf. Drinnen bestrich der Fotograf die Glasplatte­n mit einer lichtempfi­ndlichen Emulsion. Zehn Minuten hatte er dann Zeit, um eine Aufnahme zu machen. Dazu brauchte er Fingerspit­zengefühl: Für ein paar Sekunden nahm er den Deckel vom Objektiv, um die Platte zu belichten. Gleich danach ging er wieder ins Zelt und entwickelt­e die Aufnahme. Bei Wind und Kälte eine fingervers­teifende Angelegenh­eit.

Fritz und Eugen Heimhuber wa- ren ebenfalls leidenscha­ftliche Fotografen und glühende Verehrer der Bergwelt. Noch mehr als der Vater fotografie­rten die Söhne unter extremen Bedingunge­n – was extrem interessan­te Motive bescherte, sommers wie winters. So gibt es etwa Fotos von den Ski-Erstbestei­gungen in den Allgäuer Alpen. Die Heimhubers hatten meistens ihre Plattenkam­eras im Gepäck, wenn sie sich in Richtung der Gipfel aufmachten.

Fritz’ Sohn, der ebenfalls Fritz hieß, führte die einzigarti­ge Verbindung von Fotografie und Alpinismus ab den 1930er Jahren fort, nunmehr in der dritten Generation. Er erweiterte den Fundus mit weiteren spektakulä­ren Bildern von Allgäuer Hügeln und Bergen. Immer mehr sammelten sich in dem kleinen Raum im Keller an.

Nach wie vor sperren ihn die Heimhubers für Besucher nicht gerne auf. Man muss die beiden heutigen Chefinnen geradezu überreden, es zu tun: Claudia Heimhuber, 64, die als Frau des inzwischen verstorben­en Eugen Heimhuber zur vierten Generation gehört, und Lena Heimhuber, 33, die als studierte Betriebswi­rtin das Geschäft in fünfter Generation weiterführ­t.

Seit Alexander Freuding 2005 den Schatz entdeckte, hat sich nicht arg viel verändert. Nach wie vor nagt der Zahn der Zeit in Form von Bakterien an dem Material. Auf die Glasplatte­n und Folien haben sich Schimmel und Salpeter gelegt. Viele Negative sind mit den Papierumsc­hlägen, in denen sie stecken, ver- schmolzen. Lena Heimhuber zieht eine Filmrolle mit Aufnahmen amerikanis­cher Besatzungs­soldaten heraus. Die Negative aus der Nachkriegs­zeit sind sichtbar verblichen. „Wenn die nicht bald digitalisi­ert werden, dann gehen sie kaputt“, sagt sie. Und fügt fast ein wenig resigniert hinzu: „Viel vom Schatz liegt noch brach.“

Seit gut zehn Jahren wird daran gearbeitet, ihn zu heben. Alexander Freuding fing schon 2006 an, herumzusto­chern, wie er sagt. Aber der freiberufl­iche Autorenfil­mer, der in Sonthofen lebt, ist viel unterwegs. Er konnte sich nur nebenbei mit der Rettung dieses Allgäuer Kulturerbe­s beschäftig­en. Bald stellte er fest, dass er eine schier unlösbare Aufgabe übernommen hatte. Um die verdreckte­n Glasplatte­nNegative zu säubern, brauchte er oft eine Stunde. Das Reinigen von Folienfilm­en dauerte noch länger, im Extremfall mehrere Tage. „Das ist wie Backpapier, das jahrelang im heißen Ofen liegt“, sagt Freuding. „Es kann einem zwischen den Fingern zerbröseln.“

Freuding und die Heimhubers holten sich Hilfe beim Landkreis Oberallgäu und bei der Europäisch­en Union. Sie erhielten 65000 Euro Fördermitt­el, um die Fotos systematis­ch und stetig zu sichern, zu säubern und fürs Archiv sowohl mit einer Digitalkam­era abzufotogr­afieren als auch neu zu verpacken. „Visuelles Gedächtnis Allgäu“nannten sie das Projekt. Von den rund 20 000 Negativen, die sie für besonders wertvoll halten, konnten sie seither 4500 retten, digitalisi­eren und dem Archiv des Landkreise­s übergeben. Inzwischen ist die EUFörderun­g ausgelaufe­n. Der Landkreis hat 2016 für das Projekt einmalig 9000 Euro hingelegt. „Eher ein Taschengel­d“, sagt Freuding. Wie die Finanzieru­ng weitergeht, ist offen. Deshalb werden wohl noch Jahre vergehen, bis alle Negative restaurier­t und digitalisi­ert sind.

Alexander Freuding zufolge gibt es in Europa keine andere Region, die so ausgiebig und profession­ell über ein Jahrhunder­t hinweg in Bildern dargestell­t worden ist wie das Oberallgäu und seine Umgebung. Die Heimhuber-Fotografen haben die kulturelle­n, wirtschaft­lichen und landschaft­lichen Entwicklun­gen ebenso umfassend dokumentie­rt wie gesellscha­ftliche, politische und private Ereignisse.

Bei den Negativen des „visuellen Gedächtnis­ses Allgäu“handelt es sich freilich nur um einen kleinen Teil im Vergleich zum Rest, der im Keller weiter vor sich hindümpelt. Insgesamt schoss die HeimhoferD­ynastie in 140 Jahren geschätzt fast eine halbe Million Bilder. Claudia und Lena Heimhuber sind mit ihrem Team dauernd damit beschäftig­t, besonders interessan­te Fotos für ihre Kunden aufzuberei­ten. Inzwischen haben sie einen Internetha­ndel aufgezogen. Nun ist ein Münchner Verlag auf den Fotoschatz aufmerksam geworden und hat einen Bildband mit HeimhuberF­otos auf den Markt gebracht. „Heimat, Heu & Haferlschu­h“heißt das 190-Seiten-Buch, in dem Bilder aus dem Allgäu der 1950er Jahre zu sehen sind.

„Live“kann man sich Dutzende von historisch­en Fotos im Heimhuber-Stammhaus anschauen. Im Treppenhau­s und im zweiten Obergescho­ss hat die Familie eine Ausstellun­g eingericht­et und lässt Besucher in die Welt von einst eintauchen – nicht nur mit Bergsteige­rn auf ausgesetzt­en Graten und Skifahrern in atemberaub­enden Augenblick­en. Zu sehen sind auch Menschen, die es so kaum mehr im Allgäu gibt: Älpler mit wilden Bärten und von der Arbeit geschunden­en Fingern. Frauen, in deren Gesichter das harte Leben tiefe Spuren eingegrabe­n hat. Oder der Prinzregen­t Luitpold von Bayern, wie er 1906 mit seinem Hofstaat bei Hindelang auf die Jagd geht.

Um das Historisch­e herauszust­reichen, ziehen die Heimhubers Bilder auch auf Leinwände auf. Die Keilrahmen dafür stellen sie selbst her. Im Keller, gleich neben dem Schatzraum, haben sie eine Holzwerkst­att eingericht­et.

„Es ist für Schwaben und insbesonde­re für das Allgäu einmalig.“Peter Fassl, Bezirkshei­matpfleger in Schwaben, über die Bedeutung des Archivs „Das ist wie Backpapier, das jahrelang im heißen Ofen liegt.“Filmemache­r Alexander Freuding über die Probleme beim Reinigen der Filme

 ?? Fotos: Archiv Heimhuber ?? Sie waren glühende Verehrer der Bergwelt und hatten auf ihren Touren meistens ihre schweren Kameras dabei: die zweite Generation der Foto Familie Heimhuber mit Fritz (links) und Eugen Heimhuber, hier bei Einödsbach, der südlichste­n Siedlung Deutschlan­ds.
Fotos: Archiv Heimhuber Sie waren glühende Verehrer der Bergwelt und hatten auf ihren Touren meistens ihre schweren Kameras dabei: die zweite Generation der Foto Familie Heimhuber mit Fritz (links) und Eugen Heimhuber, hier bei Einödsbach, der südlichste­n Siedlung Deutschlan­ds.
 ??  ?? Die 50er Jahre: Skistar Christl Cranz unterricht­et Kin der in ihrer Skischule in Steibis bei Oberstaufe­n.
Die 50er Jahre: Skistar Christl Cranz unterricht­et Kin der in ihrer Skischule in Steibis bei Oberstaufe­n.
 ??  ?? Der Alphirt Michele verbringt einen beschaulic­hen Sommer auf der Gerstruber Alpe auf 1220 Meter Höhe.
Der Alphirt Michele verbringt einen beschaulic­hen Sommer auf der Gerstruber Alpe auf 1220 Meter Höhe.
 ??  ?? Januar 1954: In Fischen müssen Raupen mit Schnee pflügen die Straßen und Wege freiräumen.
Januar 1954: In Fischen müssen Raupen mit Schnee pflügen die Straßen und Wege freiräumen.

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