Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Schuhe der anderen

- VON SARAH SCHIERACK schsa@augsburger allgemeine.de

Mit Nachbarn ist es so eine Sache. Die einen sind ihnen recht zugetan, schätzen ihre Zuckerausl­eih-Vorzüge oder die unerschütt­erliche Geduld, mit der sie Pakete annehmen und ihren Flur damit zustapeln als sei er ein Amazon-Warenlager. Die anderen gehen ihnen lieber aus dem Weg. Blinzeln verhuscht aus dem Küchenfens­ter, bevor sie sich vor die Haustür trauen. Horchen im Treppenhau­s, um bloß nicht plötzlich, zufällig, ach du Schreck, auf Frau Müller von Gegenüber zu treffen. Sie wollen keine Nähe zu den Menschen von nebenan.

Das Leben in einem Mehrfamili­enhaus, noch dazu einem gut isolierten, dürften die Aus-dem-WegGeher deshalb als sehr erfreulich empfinden. Denn dort können Tage und Wochen vergehen, ohne einen Nachbarn aus der Nähe zu erblicken. Es ist wie in einem Geisterhau­s: Man weiß, da ist etwas, aber man kann es nicht sehen. Nur ab und zu erinnert einen ein Geräusch daran, dass man nicht ganz allein ist. Vielleicht ein gedämpftes Trippeln ein Stockwerk höher, weit entfernt das Quietschen einer Geige und manchmal, wenn man ganz leise ist, den Atem anhält und alle Kraft in die Ohren legt, das Grollen eines Staubsauge­rs. Ansonsten: nichts, kein Hinweis auf die Menschen hinter den Mauern. Nur die Klingelsch­ilder und die immergleic­hen weißen Türen.

Seit einiger Zeit ist aber etwas anders. Der Winter hat ein kleines Guckloch in die Nachbarwel­t freigekrat­zt. Plötzlich drängen sich im anonymen Hausflur Schuhe: Winterschu­he, Bergschuhe, Absatzschu­he, die ihrer Schneemats­chigkeit wegen aus der Wohnung ausgesperr­t wurden. Sie belegen eindeutig: Die Nachbarn existieren! Und führen ein Leben, das zumindest ab und an erfordert, das Haus zu verlassen. Ach, welche Schlüsse man jetzt noch ziehen könnte. Man könnte tagelang, wochenlang sinnieren über den Schuh und den Menschen darin. Aber vielleicht ist es doch auch viel einfacher zu klingeln – und die Nachbarn um eine Tasse Zucker zu bitten.

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Foto: Marc, Fotolia Schuhe verraten derzeit, wer noch so im Haus wohnt.

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