Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Schuhe der anderen
Mit Nachbarn ist es so eine Sache. Die einen sind ihnen recht zugetan, schätzen ihre Zuckerausleih-Vorzüge oder die unerschütterliche Geduld, mit der sie Pakete annehmen und ihren Flur damit zustapeln als sei er ein Amazon-Warenlager. Die anderen gehen ihnen lieber aus dem Weg. Blinzeln verhuscht aus dem Küchenfenster, bevor sie sich vor die Haustür trauen. Horchen im Treppenhaus, um bloß nicht plötzlich, zufällig, ach du Schreck, auf Frau Müller von Gegenüber zu treffen. Sie wollen keine Nähe zu den Menschen von nebenan.
Das Leben in einem Mehrfamilienhaus, noch dazu einem gut isolierten, dürften die Aus-dem-WegGeher deshalb als sehr erfreulich empfinden. Denn dort können Tage und Wochen vergehen, ohne einen Nachbarn aus der Nähe zu erblicken. Es ist wie in einem Geisterhaus: Man weiß, da ist etwas, aber man kann es nicht sehen. Nur ab und zu erinnert einen ein Geräusch daran, dass man nicht ganz allein ist. Vielleicht ein gedämpftes Trippeln ein Stockwerk höher, weit entfernt das Quietschen einer Geige und manchmal, wenn man ganz leise ist, den Atem anhält und alle Kraft in die Ohren legt, das Grollen eines Staubsaugers. Ansonsten: nichts, kein Hinweis auf die Menschen hinter den Mauern. Nur die Klingelschilder und die immergleichen weißen Türen.
Seit einiger Zeit ist aber etwas anders. Der Winter hat ein kleines Guckloch in die Nachbarwelt freigekratzt. Plötzlich drängen sich im anonymen Hausflur Schuhe: Winterschuhe, Bergschuhe, Absatzschuhe, die ihrer Schneematschigkeit wegen aus der Wohnung ausgesperrt wurden. Sie belegen eindeutig: Die Nachbarn existieren! Und führen ein Leben, das zumindest ab und an erfordert, das Haus zu verlassen. Ach, welche Schlüsse man jetzt noch ziehen könnte. Man könnte tagelang, wochenlang sinnieren über den Schuh und den Menschen darin. Aber vielleicht ist es doch auch viel einfacher zu klingeln – und die Nachbarn um eine Tasse Zucker zu bitten.