Augsburger Allgemeine (Land West)
Der Shakespeare der Wissenschaften
Sachbuch Er war Entdecker und Freigeist – und prägt unser Bild der Erde bis heute. Doch wer kennt wirklich Alexander von Humboldt? Jetzt gibt es mehrere Gründe, ihn neu zu entdecken
Humboldt inspiriert Freiheitskämpfer ebenso wie Naturwissenschaftler
Was für ein Leben! Was für ein Geist! Dies ist die Geschichte eines rastlosen Entdeckers, einer Art Indiana Jones des 19. Jahrhunderts; eines Manns, der allein mit seinem französischen Reisegefährten und einigen indianischen Helfern tausende Kilometer durch Südamerika reist, in Gebiete, in denen kaum ein Europäer zuvor war; der dabei auf dem höchsten bekannten Berg der Welt einen neuen Höhenrekord für Europäer aufstellt; auf einer abenteuerlichen Erkundungsfahrt durch den Dschungel und in einer Nussschale auf dem Orinoco Krokodilen, Jaguaren und Schlangen entgeht; Wüsten und Sümpfe durchquert – während all dieser Strapazen misst und beobachtet, aufzeichnet und vergleicht – und mit jedem Tag das Wissen der Menschheit um die Welt erweitert. Er ist beinahe 30, als er zu dieser fünfjährigen Expedition aufbricht. Ihr sollten noch viele andere Reisen folgen – und wie im Rausch vollgeschriebene Manuskriptseiten. Der Mann, der all dies und noch so viel mehr geleistet hat, heißt Alexander von Humboldt. Als er am 6. Mai 1859 mit 90 Jahren in Berlin stirbt, löst die Nachricht rund um die Welt Bestürzung aus.
Ein spannendes Leben in einer bewegten Zeit. Bester Stoff für Historiker und Biografen. Das einzige Problem: Über das Leben des Alexander von Humboldt – wie über jenes seines nicht minder bedeutenden Bruders Wilhelm, des Diplomaten und Bildungsreformers – ist schon viel geschrieben worden. Warum also noch eine Biografie?
Die deutsche Kulturwissenschaftlerin Andrea Wulf, die seit 20 Jahren in England lebt, gibt darauf nun eine in weiten Teilen sehr stimmige Antwort. „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“heißt ihr jüngst erschienenes Werk und der Titel deutet schon an, wo sie ihre Antwort gefunden hat. Es ist Humboldts Vermächtnis an uns, die Erdbewohner des Anthropozäns, des von vielen Wissenschaftlern sogenannten Zeitalters des Menschen, der seinen Heimatplaneten durch seine Eingriffe irreversibel verändert hat – und immer noch dabei ist, sich seiner Lebensgrundlage zu berauben.
Humboldt habe dies in gewisser Weise vorhergesehen, sagt Wulf. Natur, Politik und Gesellschaft sind, so habe er es beschrieben, in einem Geflecht von Beziehungen mitei- nander verwoben. Humboldt ist ein scharfzüngiger Kritiker von Sklaverei und Kolonialismus. Ihm ist die grausame, primitiv kapitalistische Art, mit der die Spanier – einträchtig verbunden mit der katholischen Kirche – die einheimische Bevölkerung Südamerikas unterwerfen und ausbeuten, ein Graus. Und er beschreibt, wie dieses menschenverachtende Regime auch die Umwelt formt, die als scheinbar unendliches, nur für die wirtschaftliche Nutzung durch den Menschen existierendes Gut angesehen wird.
Humboldt will die Welt mit seinen Augen sehen – und sieht dabei so viel mehr als die meisten seiner Zeitgenossen. Er entdeckt, dass sich die Welt in Klimazonen einteilen lässt, in denen ähnliche Pflanzen gedeihen. Zuvor hatten die Biologen gesammelt, klassifiziert, benannt – aber kaum über ihren Tellerrand hinausgesehen. Humboldt beschreibt die Isothermen und Isobaren, jene Linien, die wir heute auf den Wetterkarten sehen und die verschiedene Punkte auf dem Globus mitei- nander verbinden, an denen die gleiche Temperatur oder der gleiche Druck herrscht. Alles hängt mit allem zusammen, die ganze Welt ist Humboldt ein einziger Organismus. In einer Zeit, in der die Wissenschaften sich auf den Weg machen, sich in Spezialdisziplinen zu atomisieren, wagt Humboldt das genaue Gegenteil, ist Biologe, Geologe, Physiker und mehr. Damit inspiriert er den Freiheitskämpfer Símon Bolívar ebenso wie den jungen Forscher Charles Darwin. Jenen Darwin, dessen Evolutionstheorie ein halbes Jahr nach Humboldts Tod erscheint und der sein innig verehrtes Vorbild darin weit hinter sich lässt.
Die umsichtige Einordnung von Humboldts Leben in seinen zeitlichen Kontext ist eine der großen Stärken von Wulfs Buch. Es ist eine Epoche riesiger politischer, sozialer und wissenschaftlicher Umwälzungen. Europa ist noch geprägt von den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts und den verheerenden Kriegen Napoleons. Mit seiner gelebten Überzeugung von der Freiheit des Geistes und der Wissenschaft von menschengemachten Beschränkungen gerät der Grenzgänger mehrmals zwischen die Fronten der andauernden deutschfranzösischen Rivalität und Feindschaft seines Jahrhunderts.
Wulfs Biografie, ausgezeichnet mit dem Bayerischen Buchpreis, liest sich spannend wie ein Roman. Sie ist profund recherchiert und kommt mit einem vorbildlichen Apparat an Fußnoten, bibliografischen Angaben und einem großen Register daher. Dennoch hat sie Schwächen. Der Mensch Humboldt entwindet sich an entscheidenden Stellen dem Zugriff der Biografin, die sich nicht immer der Versuchung entziehen kann, die historische Figur zu idealisieren. Über Humboldts Verhältnis zu Frauen bekommt man gar nichts zu lesen, über seine vielfach gemutmaßte Homosexualität eben genau dies: Mutmaßungen. Dass Humboldt ein zutiefst widersprüchlicher Mensch gewesen sein muss, kaum zu fassen in all seinen Facetten, glaubt man der Autorin. Allein es bleibt oft bei der Behauptung.
Lesenswert und prall von Wissen bleibt die Biografie in jedem Fall. Und wer sich weiter in Leben und Werk Humboldts vertiefen will, der sei auf die Präsenz der Berliner Staatsbibliothek im Internet verwiesen. Nach Abschluss eines dreijährigen Digitalisierungs- und Restaurierungsprojekts sind dort nun die amerikanischen Reisetagebücher Humboldts frei zugänglich. Damit ist der komplette Nachlass des Gelehrten im Internet zu finden.