Augsburger Allgemeine (Land West)

Raus mit dem alten Theater

Wie die Kammerspie­le Tschechow aufführen

- VON BARBARA REITTER

München „Anti! Anti! Anti!“sollte eigentlich über das Leuchtband laufen, auf welchem das Publikum den Tschechow-Text auf Englisch verfolgen kann. Die Antis summieren sich im Laufe der Aufführung an den Münchner Kammerspie­len, wo Nicolas Stemann den „Kirschgart­en“inszeniert. Klar, naturalist­isches Gutsherren-Ambiente mit Plüsch und Samowar wäre mit moderner Theater-Ästhetik unvereinba­r. So bleibt ein leerer, schwarzer Raum, aus welchem der Regisseur Atmosphäre raus und technoide Sachlichke­it rein, psychologi­schen Realismus hinaus und Dekonstruk­tivismus hinein zwingt.

Dabei gibt es in der Aufführung durchaus ein Vorher und Nachher. Im ersten Teil wohnt man einer verkopften Textbefrag­ung bei, die zum blutleeren Hörspiel mutiert. Es wirkt wie die szenische Reprodukti­on einer Probensitu­ation, in welcher die Schauspiel­er einzeln vor den permanent auf- und zugezogene­n Theatervor­hang treten und dem Text nachschmec­ken – mal in leiernd deklamator­ischem Pathos, dann wieder die Syntax gegen den Sprachrhyt­hmus zerhackt. Der letzte Akt allerdings ist dicht und intensiv und bedient durchaus die Kulinarik. Eine halbe Stunde lang verschwind­et die Anti-Haltung und weicht einem furiosen Bal macabre, einen Tanz auf dem Vulkan kurz vor dem Untergang. Mit allem, was dazu gehört, heftigen Klängen, dramatisch­em Licht und virtuosen Bewegungss­pielen.

Im Ganzen aber ist die Anti-Haltung Konzept. Gegen das Alter besetzt die Darsteller, am konsequent­esten beim Aufsteiger Lopachin (Peter Brombacher), der letztlich der verarmten Familie den Kirschgart­en abkauft, um darauf FerienParz­ellen zu errichten. Beim Bruder der von Nostalgie umwehten Gutsherrin (Ilse Ritter), der mit Daniel Lommatzsch eher wie ein smarter Börsenhai wirkt, und einem jugendlich­en Diener Firs (Samouil Stoyanov). Diesem und Brigitte Hobmeier in ihrer letzten Rolle an den Kammerspie­len genehmigt der Regisseur allerdings wundervoll­e Soli: eine köstliche Tanzeinlag­e im Stile des Sterbenden Schwans bei ihm, magische Zauberverf­ührung bei der rothaarige­n Ausnahmesc­hauspieler­in als versponnen­e Gouvernant­e.

Eigentlich kreist diese melancholi­sche „Komödie“nur um eines: Lässt sich ein Weg aus der Verschuldu­ng des Gutshofs finden, dessen Bewohner samt ihrer Entourage total verarmt, aber unfähig zum Handeln sind? Der Verkauf des Gartens wäre die Rettung – doch alle sind dagegen. Dabei droht lautstark von Anfang an das Unheil: Statt der Sägen nervt ein Bohrer, und ab und zu krachen als Menetekel veritable Baumstämme aus dem Bühnenhimm­el vor die Füße der Protagonis­ten. Anti-Text also auch das. O

Nächste Aufführung­en in den Münchner Kammerspie­len am 5., 9. und 23. Februar.

 ?? Foto: Thomas Aurin/MK ?? Der Kirschgart­en droht zu entgleiten: Ilse Ritter (Mitte), gerahmt von Damian Rebgetz (li.) und Gundars Abolins.
Foto: Thomas Aurin/MK Der Kirschgart­en droht zu entgleiten: Ilse Ritter (Mitte), gerahmt von Damian Rebgetz (li.) und Gundars Abolins.

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