Augsburger Allgemeine (Land West)
Was 4 Cent für die Würde bedeuten können
Mein Augsburg Ein Leben in Armut – und dann schmachvolle Minuten an der Supermarktkasse. Wie ein Mann dank einer menschlichen Geste den Glauben an das Gute bewahrt
Diese Geschichte handelt von mangelndem Mitgefühl, vielleicht auch bloß Gedankenlosigkeit, aber auch von großem Anstand und dem verzweifelten Versuch eines Menschen, sich trotz Armut die Würde zu bewahren. Erzählt hat sie uns ein Leser. Ort der Handlung: ein Augsburger Supermarkt. Thema: Wie vier Cent einen Mann in die Bredouille brachten.
Ein Bekannter des Lesers lebt von der Grundsicherung. Er dreht nicht nur jeden Euro um, bevor er ihn ausgibt, sondern jeden Cent. Nun hatte der Mann an einem Tag in dieser Woche gerade einmal 1,14 Euro in der Tasche, dazu einen Pfandflaschenbon für 25 Cent. Mit dem Geld wollte er in dem Supermarkt vier Buttercroissants im Angebot für einen Euro und dazu drei Semmeln kaufen, was zusammen genau 1,39 Euro kostete. Die Kassiererin berechnete ihm jedoch für die Croissants 1,04 Euro. Fällig wurden an der Kasse also 1,43 Euro.
Er: „Die Croissants sind im Angebot, die kosten einen Euro!“
Sie: „Nein, die kosten 1,04 Euro!“Er: „Doch, die sind im Angebot!“Sie: „Nein, die kosten 1,04 Euro!“
Schließlich die Kassiererin: „Haben Sie jetzt das Geld?“
Er: „Nein!“Und er hatte es tatsächlich nicht.
Darauf stornierte die Supermarktmitarbeiterin den Kassenzettel, gab ihm einen Euro zurück und warf die Croissants in den Mülleimer.
Er: „Das können Sie doch nicht machen!“
Sie: „Sie haben die doch angefasst, die kann ich nicht mehr verkaufen!“Es ging hin und her. Sie: „Verschwinde jetzt, Du stinkst!“
Der Leser, der den Fall schildert, stellt an dieser Stelle fest: „Dabei ist mein Bekannter wirklich reinlich, so mancher könnte sich da ein Beispiel nehmen, mich schließe ich da auch ein.“
Es war laut geworden im Supermarkt.
Die Filialleiterin erschien: „Was ist hier los?“
Der Mann schilderte den Sachverhalt.
Die Filialleiterin: „So geht das nicht!“Dem Mann sagte sie: „Sie haben natürlich Recht, kommen Sie mit!“
Sie ging mit ihm zurück in den Markt, bediente ihn selbst mit vier Croissants und entschuldigte sich für das Vorgefallene. An der Kasse sagte sie: „Die Croissants schenke ich Ihnen“und entschuldigte sich nochmals. Die Kassiererin sagte kein Wort. Als der Mann die Geschichte unserem Leser erzählt hatte, sagte er: „Ich bin arm, aber warum muss mir so etwas passieren?“
Ja, warum? Vielleicht, weil sich viele von uns inmitten allgemeinen Wohlstands einfach nicht vorstellen können, wie arm manche Menschen unter uns sind. Wir sehen die Not nicht, weil sie sich beschämt versteckt. Vielleicht auch, weil wir zu wenig Geduld haben für diese Menschen, wenn sie unsere Alltagsabläufe stören. Menschen, für die vier Cent zu einer Frage der Würde werden können.