Augsburger Allgemeine (Land West)
Hasskommentare und neue Ermittlungen
Merkel Staatsbesuch Die Nachwehen des Putschversuchs in der Türkei sind immer noch spürbar: Vor Gericht genauso wie in der türkischen Gemeinde, die gespalten ist. Ein Stimmungsbild
Es ist eine lange Liste mit Themen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Staatsbesuch in der Türkei ansprechen könnte. Dazu gehören der EU-TürkeiFlüchtlingspakt genauso wie die Entwicklungen seit dem Putschversuch Mitte Juli 2016.
In den Köpfen der Menschen ist er immer noch: Vor Ort genauso wie in Deutschland. „Die Stimmung ist immer noch gespalten“, sagt der Gersthofer Grünen-Stadtrat Özcan Celep: Auf der einen Seite die Befürworter von Staatschef Recep Tayyip Erdogan, auf der anderen Seite die Gegner. Politische Diskussionen seien kaum möglich: Schnell werde es laut, sagt Celep. Und manchmal soll es sogar zur Handgreiflichkeiten kommen, hat der Stadtrat erfahren. Er bedauert: „Wir sitzen doch alle im gleichen Boot, auch wenn jemand eine andere Meinung hat.“Was ihm fehlt, ist der Respekt, der in einer Demokratie gepflegt wird.
Den hatte wohl auch ein junger Mann vollkommen verloren, der nach den Angriffen auf die Frohsinn-Bildungseinrichtung in Gersthofen auf Facebook ausfällig gewesen sein soll. Unbekannte hatten nach dem Putschversuch im Juli mehrere Scheiben des Gebäudes eingeworfen. Es gehört zur überwiegend von türkischstämmigen Vereinsmitgliedern getragenen Bildungseinrichtung Frohsinn, die der Gülen-Bewegung nahe steht.
Auf Facebook waren Bilder von den beschädigten Scheiben zu sehen. Darunter fand sich wenig später ein Kommentar, der den Angriff eindeutig begrüßte und zur Gewalt aufrief. Dazu noch einige Ausdrücke, die unter die Gürtellinie gingen.
Absender war offenbar ein 26-Jähriger aus Augsburg, der die türkische Staatsbürgerschaft besitzt und in Deutschland als Produkti- onshelfer arbeitet. Vor Gericht bekannte er sich am Mittwoch zwar als Erdogan-Befürworter. Den Hasskommentar will er aber nicht verfasst haben. Das habe nämlich sein Cousin gemacht, den er zur Zeit des Putschversuchs in der Türkei besucht hatte.
Seine Verteidigerin Meral Bayar übergab Richter Alexander Müller ein Schriftstück, in dem der Cousin schilderte: Gemeinsam hätten die jungen Männer von den Vorfällen in Gersthofen erfahren. Er habe dann eigenmächtig das Smartphone seines Verwandten aus Deutschland an sich genommen und den Kommentar abgesetzt. Der Cousin sei gerade auf der Toilette gewesen. In dem Schreiben sagte er, dass er mit Demokratie nichts anfangen könne und er es bedauere, dass er seinen Cousin in Schwierigkeiten gebracht habe. Sich selbst übrigens auch, wie Richter Müller anmerkte: Sollte er tatsächlich verantwortlich sein, dann fällt für ihn die nächste Reise nach Deutschland wohl flach. „Wenn er in den nächsten zehn Jahren einreist, dann wird er weggeräumt“, sagte Müller wörtlich.
Der Richter hielt den Brief für eine „Schutzbehauptung“– er setzte die Hauptverhandlung aus und lässt jetzt das Schreiben amtlich übersetzen. Außerdem kommt es wohl zu neuen Ermittlungen.
Längst abgeschlossen sind dagegen zwei andere Fälle, die nach den Angriffen auf Frohsinn-Einrichtungen angezeigt wurden: Es ging um Hasskommentare und Beleidigungen. Die Beschuldigten nahmen die Strafbefehle an und mussten 4000 und 8000 Euro bezahlen. Wer die Steine auf die Fensterscheibe in Gersthofen geworfen hatte, ist nicht bekannt, sagt Mustafa Güngör vom Gersthofer Verein Frohsinn. Der 31 Jahre alte Vorstand wurde mehrfach in sozialen Netzwerken beleidigt, nachdem der türkische Staatschef Erdogan die Bewegung von Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich gemacht hatte.
Auch Stadtrat Özcan Celep, der die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, wurde damals beschimpft: Als „Vaterlandsverräter“wurde er bezeichnet. „Einige haben geschrieben: Wenn ich in die Türkei reise, bin ich nicht mehr sicher.“
Apropos Reise: Den Staatsbesuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel hält Celep für ein falsches Signal. Solange sich die Lage in der Türkei nicht beruhigt hat, solange immer noch kritische Menschen verhaftet werden, hätte sie nicht auf Recep Tayyip Erdogan zugehen dürfen.