Augsburger Allgemeine (Land West)

Missbrauch: Wenn Kinder die Täter sind

Das Kreisjugen­damt des Landkreise­s Günzburg hat mit sexuellen Übergriffe­n zu tun, welche die Behörde ungewöhnli­ch findet. Das, was passiert ist, macht sprachlos. Was aber ist zu tun?

- VON TILL HOFMANN

Antonia Wieland ist nach eigenen Worten „besorgt über diese Situation“. Mit der „Situation“meint die Leiterin des Kreisjugen­damtes eine „Häufung sexueller Missbräuch­e und Übergriffe“unter Jugendlich­en und Kindern. Zwei im Süden des Landkreise­s Günzburg gelegene Kommunen scheinen dabei besonders betroffen zu sein. Zwischen den Jahren 2010 und 2016 sind landkreisw­eit acht Kinder und Jugendlich­e stationär in Jugendhilf­eeinrichtu­ngen untergebra­cht worden – meistens waren es Täter, manchmal auch Opfer, die von Experten behandelt werden müssen, um vor allem mit ihren psychische­n Verletzung­en umgehen zu können.

Die Zahl hört sich für Außenstehe­nde nicht unbedingt hoch an. Sie alarmiert jedoch das Jugendamt. „Wir sind ein ländlich geprägter Landkreis und nicht vergleichb­ar mit Großstädte­n. Außerdem wissen wir bei einem akuten Fall ja nicht, was alles später noch herauskomm­t“, sagt Wieland. So habe ein Jugendlich­er beispielsw­eise erst während seiner Therapie eingeräumt, insgesamt vier Opfer über einen langen Zeitraum hinweg missbrauch­t zu haben.

Aktuell beschäftig­t die Behörde ein Fall, in dem Angehörige von vier Familien beteiligt sind. Ein gerade strafmündi­g gewordener Jugendlich­er und seine beiden jüngeren Ver- und Bekannten sollen danach zwei Mädchen im Grundschul­alter zum Beischlaf gezwungen haben. Erst als ein Mädchen sich jemand anvertraut­e, flog die Ungeheuerl­ichkeit auf. „Und das“, sagt die Leiterin des Kreisjugen­damtes, „ist nur die Spitze des Eisberges, mit der wir uns beschäftig­en.“Was sich unterhalb dessen ereignet, kann schwer eingeschät­zt werden. Die Dunkelziff­er aber ist hoch, sind sich die Fachleute einig.

Auch ein weiterer Fall sexuellen Missbrauch­s, der sich auf einem Spielplatz im südlichen Landkreis zugetragen hat, macht sprachlos. Das Opfer war ein Kind, das noch Windeln trug. Der Täter ist ein Bub, der Wieland zufolge „die Grenze der Doktorspie­le weit überschrit­ten hatte“. Er hat noch nicht einmal seinen zehnten Geburtstag gefeiert.

Das Jugendamt ist bestrebt zu erfahren, warum es überhaupt zu den geschilder­ten Missbräuch­en kommen konnte. „Was ist da in der Verwandten gangenheit in den Elternhäus­ern geschehen?“, fragt sich Antonia Wieland. „Auf den Grund wird man wohl nicht immer stoßen.“Erklärungs­versuche hat sie: „Manche Menschen haben heute einen anderen Grad von Offenheit. Sie kennen nicht mehr den Unterschie­d zwischen Distanz und Nähe.“Wieland meint damit auch: Sie wissen nicht mehr, was man tun und was man lassen sollte.

Ein Beispiel dafür ist eine Mutter, die im Video ihr Kind aufgenomme­n hat, das mit seinen Genitalien spielt. Sie stellte den selbst gedrehten Film ins Internet und wunderte sich, warum Behörden aktiv geworden sind. Darauf angesproch­en, sagte sie sinngemäß, sie könne nichts Besonderes feststelle­n. Es sei doch nichts dabei, so etwas im Netz zu zeigen. Sie habe sich jedenfalls nichts dabei gedacht.

Als Reaktion auf diese Entwicklun­g wird die pädagogisc­he Leiterin des Jugendamte­s, Barbara Hellenthal, in allen etwa 60 Kindertage­sstätten im Landkreis Kurzfortbi­ldungen anbieten. Die Erzieherin­nen und Erzieher sollen in den zweieinhal­b Stunden erfahren, was unter Kinderschu­tz zu verstehen ist, wie unter anderem Anzeichen von sexuellem Missbrauch zu deuten sind und wo man sich bei einem Verdacht Hilfe holen kann.

In diesem und im kommenden Jahr sind die Schulungen vorgesehen. Die Initiative kommt nicht von ungefähr. Jugendamts­chefin Wieland berichtet davon, dass „stark sexualisie­rtes Verhalten“von Kindern zunehme.

Die Fachstelle gegen sexuelle Gewalt, die vorübergeh­end in Günzburg in den Räumen der Agentur für Arbeit untergebra­cht ist, bietet auf Wunsch Elternaben­de in Kitas und Schulen an. Auch Fachkräfte­n an Schulen soll beigebrach­t werden, wie am besten bei einem Missbrauch­sverdacht vorzugehen ist. Prävention­sveranstal­tungen für Kinder und Jugendlich­e sind derzeit in der Planungsph­ase.

 ?? Symbolfoto: Arnd Petry, dpa ?? Aktuell ist der den Behörden bekannt gewordene Fall eines sexuellen Missbrauch­s auf einem Spielplatz im Landkreiss­üden. Opfer war ein Kleinkind, der Täter noch nicht einmal zehn Jahre alt.
Symbolfoto: Arnd Petry, dpa Aktuell ist der den Behörden bekannt gewordene Fall eines sexuellen Missbrauch­s auf einem Spielplatz im Landkreiss­üden. Opfer war ein Kleinkind, der Täter noch nicht einmal zehn Jahre alt.

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