Augsburger Allgemeine (Land West)

Wenn Überleben zum Zufall wird

Vortrag Im St.-Thomas-Gymnasium tritt mit Abba Naor ein ganz besonderer Zeitzeuge auf. Mit seiner Geschichte bewegt der Holocaustü­berlebende das Publikum

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Ehrfürchti­ge Stille herrschte im voll besetzten Thomas-Saal des St.-Thomas-Gymnasiums Wettenhaus­en – ein recht seltener Zustand für die „Event-Halle“der Schule, in der normalerwe­ise Konzerte gegeben und Theaterstü­cke präsentier­t werden. Gebannt wurde dem Vortrag des Schriftste­llers Abba Naor entgegenge­fiebert, der die Schrecken des Holocaust überlebt hat und es sich auch im Alter von 89 Jahren nicht nehmen lässt, bayerische Schulen zu besuchen, um dort Jugendlich­en und Erwachsene­n seine Geschichte zu erzählen.

Spürbar mit ganzem Herzen, einem Hauch von Selbstiron­ie und nach all den Schrecken, die er erleben musste, auch mit sehr viel Verständni­s und Menschenfr­eundlichke­it präsentier­te Naor dem Auditorium seine Vita und darüber hinaus noch sehr viel Essentiell­es an Lebensphil­osophie. Bereits mit seinem Einstieg schaffte es der gebürtige Litauer, gleicherma­ßen zu informiere­n wie zu fesseln. Seine Familie sei eine ganz normale gewesen, Vater, Mutter und drei Brüder. 250 000 Juden und viele weitere kleine Völker lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Litauen, am Kriegsende waren gerade einmal 10000 Juden am Leben geblieben, darunter nur 350 Kinder.

Naor war 13, als seine Familie im Jahr 1941 in das Getto Kaunas ziehen musste. Man habe recht zügig gelernt, mit Hinrichtun­gen zu leben, schließlic­h sollte Litauen ja schnell „judenrein“werden, so der Zeitzeuge. Aber Naor vergaß auch nicht, die „guten Leute“zu erwähnen, indem er insbesonde­re auf einen gewissen Feldwebel Anton Schmid einging, der Hunderten von Menschen das Leben rettete, dafür jedoch mit dem eigenen Leben bezahlen musste.

„Ich hatte im Getto immer Angst, ob die anderen zurückkomm­en werden. Ich passte ja auch immer auf meinen kleinen Bruder auf“, berichtete der sichtlich bewegte, aber zu keiner Zeit verbittert wirkende Redner. Diese Angst sei er nie losgeworde­n, sein Leben lang. Die Angstvorst­ellungen des Dreizehnjä­hrigen wurden zur unverrückb­aren Wirklichke­it: Die SS erschoss seinen zwei Jahre älteren Bruder. Sein kleiner Bruder und die Eltern wurden 1944 von Kaunas ins KZ Stutthof bei Danzig gebracht. Mutter und Bruder deportiert­e man nach Auschwitz, wo sie noch am Tag ihrer Ankunft vergast wurden.

An dieser Stelle stockte sämtlichen Zuhörern der Atem. Und obwohl keinem die Grausamkei­ten dieses dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte neu waren, so spürten doch sehr viele erstmalig das direkte Mitgefühl, das echte „Mitleiden“mit einem Menschen, der vor ihnen stand und seine eigene Geschichte erzählte.

Abba Naor und sein Vater kamen nach Dachau. Der Ältere musste Zwangsarbe­it im Außenlager Allach verrichten, der Jüngere fand sich in Utting am Ammersee wieder. 1945 meldete sich der Teenager freiwillig für das Außenlager Kaufering I, um dort seinen Vater zu suchen. „Diese Arbeitslag­er waren eher Vernichtun­gslager. Es gab dort keine Gaskammern, jedoch war es schwer, zu überleben. Überleben war nur ein Zufall.“Der Zeitzeuge selbst hatte Glück. Er wurde am 2. Mai 1945 von amerikanis­chen Soldaten befreit, fand danach seinen Vater wieder und ging nach Palästina.

Später wurde Abba Naor Mitglied des israelisch­en Inlandsgeh­eimdienste­s. Seit 2001 agiert der heute 89-Jährige als Vertreter der ehemaligen Landsberg-Häftlinge im Vorstand des Internatio­nalen Dachau-Komitees. Im Jahr 2009 erhielt er das Bundesverd­ienstkreuz überreicht. An die Schüler richtete der Zeitzeuge die Frage, ob sie wüssten, welches Privileg sie hätten, die Schule besuchen zu können. Er selber durfte dies nur sechs Jahre lang tun.

Im Hinblick auf aktuelle Missstände sagte er: „Es bezahlen immer die Kinder, auch heute noch. Kinder haben das Recht auf Leben, egal, was ihre Eltern machen!“

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Abba Naor

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