Augsburger Allgemeine (Land West)
Die neuen Mittel der Macht
Serie Die Digitalisierung schafft durchschlagende Möglichkeiten für Diktaturen. Die Hoffnung, eine vernetzte Welt könnte wirklich demokratisch werden, scheint verloren. Was könnte helfen bei der Bindung von Regierung und Volk?
Diese Gesellschaft wirkt wie aus einer der vielen aktuellen düsteren Zukunftsvisionen entnommen: etwa aus Dave Eggers Darstellung einer Internet-Diktatur in „Der Circle“, die im September in Star-Besetzung in die Kinos kommt. Diese Gesellschaft erinnert auch an Klassiker des Genres, die derzeit in den USA wieder Konjunktur haben: George Orwells „1984“über den Überwachungsstaat und „Das ist bei uns nicht möglich“von Sinclair Lewis über die Machtergreifung eines totalitären Herrschers.
Deutschland diskutiert über Schleierfahndung und Zugriffe auf soziale Netzwerke – in dieser Gesellschaft aber kontrolliert der Staat bereits automatisch alle Daten und Bewegungen seiner Bürger, gerade im Internet. Algorithmen ordnen ein, vergeben „Sozialpunkte“. So werden die Menschen in vier Gruppen kategorisiert, A bis D, mit Folgen. Das beginnt damit, dass Bürger schon millionenfach vom öffentlichen Nah- und Fernverkehr ausgeschlossen wurden, weil sie die Rate einer Hypothek nicht bezahlten – und kann bis zum Entzug aller Bürgerrechte gehen. Diese Gesellschaft, das ist China, das sind die aktuellen Entwicklungen; die Arbeit ist im Gange, das Ziel lautet: Erziehung zum guten Bürger.
Man könnte es auch die neuen Grundzüge der Diktatur nennen – begünstigt von den Möglichkeiten der Digitalisierung. In der Form ist sie klassisch: Der Staat bündelt alle Macht über den Bürger. Das Gegenmodell ist eben Eggers „Circle“: Hier bündelt die Netzwirtschaft alle Macht über die Menschen und damit über Politik und den Staat…
Dabei hatten die Visionäre des Internets doch gerade in diesem vermeintlich hierarchiefreien Medium die Zukunftshoffnung auf eine Vertiefung und Verbreitung des demokratischen Geistes gesehen. Aber davon ist jetzt ungefähr so viel übrig, wie von der Piraten-Partei, die vor einigen Jahren in deutsche Landesparlamente eingezogen war und von einer „Liquid Democracy“träumte: An die Stelle der traditionellen Volksrepräsentation durch Abgeordnete, die in eine Vertrauenskrise geraten sei, müssten sich Zuständigkeiten übers Netz bei jeder Frage flüssig neu formieren können – unter Teilnahme aller.
Was davon übrig blieb: der Befund von der Vertrauenskrise des Volkes gegenüber seinen vermeint- Vertretern, das wachsende Gefühl des Sich-nicht-repräsentiert-Fühlens in den etablierten Spektren. Die aktuell auf der Hand liegenden Folgen: ein Auftreten neuer, gegen das Etablierte gerichteter Bewegungen, die für verschärften Wettbewerb und damit zunächst immerhin wieder für höhere Wahlbeteiligungen sorgen – aber womöglich in undemokratischem Geist. Und: katapultartige Ein-Mann-Karrieren, die ihr Programm betont als Alternative zum politischen Spektrum präsentieren und mehr Volksnähe versprechen – orientiert am gesunden Menschenverstand statt an Ideologien, an Notwendigkeiten statt Interessensverbänden. Trumps Selbstinszenierung weist in diese Richtung, Emmanuel Macron steht dafür.
So stehen die Zeichen zu Beginn der digitalisierten Zeit. Autoritäre Regime greifen über die neuen Kanäle, in denen sich Öffentliches und Privates mischen, tiefer ins Leben ihrer Menschen ein; in Demokratien ist daraus eine noch größere Lücke zwischen Volk und Regierung ent- in die Kräfte vorstoßen, die die Spaltung zu ihren Gunsten nutzen können und darum weiten wollen. Doch damit droht auch hier Radikalisierung. Denn wer sonst würde profitieren, sollte Macron scheitern, das bislang etablierte System aber inzwischen diskreditiert darniederliegen? Was könnte gegen diese gefährliche Lücke helfen?
Dazu in aller Kürze drei der Antworten, die derzeit am meisten verhandelt werden, jeweils beschrieben in aktuellen Büchern. »
Ursula Weidenfeld: Regierung ohne Volk – Warum unser politisches Sys tem nicht mehr funktioniert (Rowohlt, 304 S., 19,95 ¤) – Der Slogan hier lautet: „Wir müssen eine bessere Demokratie wagen.“Und zwar angelichen fangen direkt vor Ort, in den Kommunen, wo sich die Verankerung der Menschen im Staat als Erstes beweisen muss. Schon Ämter dürften nicht mehr hoheitlich auftreten, sondern müssten beispielsweise über digitale Bürgerbriefkästen für konkrete Hinweise offen sein. Der Staat muss seine Bürger wieder mehr einbeziehen, auch in komplexen Fragen – etwa mit repräsentativer Beteiligung von Gruppen an Sachentscheidungen, die sonst nur von Fachleuten erörtert und entschieden werden. „Legitimation durch Kommunikation“heißt das; die Politik muss also die Lücke schließen. » George Pieper: Die neuen Ängste – und wie wir sie besiegen können
(Knaus, 256 S., 19,99 ¤) – Die Lücke wächst hier durch die komplexer werdende Welt, mit deren Gefahren die Menschen gerade durch die neuen Medien stärker konfrontiert sind – bei gleichzeitig fehlendem Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politik. Der Psychologe Pieper rät: Es geht nur miteinander – und mit kühlem Kopf. Die Politik muss Prostanden,
bleme tabulos benennen, sich Wertefragen stellen. Und die Menschen werden um ihrer selbst Willen lernen müssen, mit unweigerlichen Unsicherheiten einer sich verändernden Welt zu leben, ohne sich daran krank zu machen und auf einfache Lösungen zu hoffen. »Ulrike Guérot: Der neue Bürgerkrieg – Das offene Europa und seine Feinde
(Ullstein, 96 S., 8 ¤) – Europa ist nicht nur das Rollenmodell, hier muss sich für die internationale Politikwissenschaftlerin Guérot tatsächlich auch alles entscheiden. Nur auf dieser Ebene können die akuten Probleme, die aus der neuen Wirtschaftsund Netzwelt kommen, politisch gelöst werden. Doch dazu muss sich die Politik öffnen und die Menschen einladen, die Lücke zu überwinden – indem sie mit in Verantwortung und Entscheidung genommen werden. So muss sich auch zeigen, wer und wie das Volk ist. Kleinere Lösungen werden auf Dauer nur die Konflikte innerhalb Europas verschärfen und auch die Probleme für die Demokratie in den Staaten.