Augsburger Allgemeine (Land West)
Live Konzerte ohne Pianisten
Klavierroboter Der Instrumentenbauer Steinway wagt sich ins Digitale: Er hat einen Flügel auf den Markt gebracht, der auch Lang Lang exakt kopiert. Die Nachfrage ist höher als erwartet
Augsburg
Die Szene erinnert an einen Gruselfilm: Klaviermusik tönt durch den Raum, nervöse Triller, dann ein Fortissimo, dass die Nackenhaare aufstellt. Doch der Hocker am Flügel ist leer, da sitzt kein Pianist in Frack und Fliege. Die Tasten bewegen sich wie von selbst auf und ab, als ließe ein Geist seine Hand über die Klaviatur fliegen. Kein Gruselfilm, sondern Wirklichkeit.
Steinway & Sons, führender Klavierhersteller der Welt, hat 2015 einen selbst spielenden Flügel präsentiert. Überspitzt gesagt: einen Roboter-Flügel. Die Firma bezeichnete das System, das sich dahinter verbirgt, als seine größte Produkt-Innovation der vergangenen 70 Jahre. Und: Mittlerweile machen diese Flügel ein Viertel der SteinwayProduktion aus – Tendenz steigend.
Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Instrument nicht von anderen Modellen: Tasten, Saiten, Resonanzboden, Pedale, alles da. Doch der Korpus verbirgt ein raffiniertes System aus Kabeln und Magnetspulen. Sichtbar davon ist nur ein Stromstecker.
Der Flügel gibt wieder, was beispielsweise Star-Pianist Lang Lang an anderem Ort eingespielt hat. Das Stück läuft jedoch nicht vom Band – das Klavier spielt es automatisiert. Anders als bei Musik aus der Stereoanlage, geht kaum Klang verloren, so Steinway. Der Hörer gewinnt den Eindruck eines Live-Konzerts, etwa im eigenen Wohnzimmer, in der Hotellobby oder im Kaufhaus – nur, dass Pianistin oder Pianist durch Abwesenheit glänzen. Wird der Künstler nun überflüssig?
Steinway fertigt seit 1853 Klaviere. Mit dem digitalen System namens „Spirio“steckt das Unternehmen nun ein neues Geschäftsfeld ab. Denn wer einen solchen Flügel besitzt, kann dessen Potenzial ausschöpfen, auch wenn er selbst nur „Twinkle, Twinkle, little Star“darauf klimpern kann – oder nicht mal das. Die Käufer-Zielgruppe umfasst also auch den Nichtspieler. Aber ein Arzt aus der Schweiz habe auch einen Flügel in sein Wartezimmer gestellt, der die Patienten beruhigen soll, erzählt Steinway-Sprecherin Sabine Höpermann in Hamburg.
Die Geschäftsidee scheint aufzugehen: 500 „Spirio“-Flügel hat Steinway inzwischen schon verkauft, vor allem an Privatpersonen. Bei einem Preis von mehr als Euro pro Flügel sind das keine Peanuts. „Dass das so einschlägt, haben wir nicht erwartet“, sagt Höpermann. „Wir haben Wartezeiten bis zum Jahresende.“Die Umsätze steigen also wieder – das Traditionshaus mit Werken in New York und Hamburg kann aufatmen.
Denn der Weltmarkt war mit der Finanzkrise 2008 geschrumpft. Das Unternehmen hatte zuletzt weniger Klaviere verkauft – auch wenn die Verkaufszahlen nicht so dramatisch eingebrochen seien wie bei anderen Klavierfirmen. Neue Märkte hätten das abgefedert: Seit 2000 baut die Firma ihren Vertrieb in China aus.
Dort sieht auch Guido Zimmermann, der seit März den europäischen Firmenzweig leitet, einen wachsenden Markt. Ebenso bei wohlhabenden Privatkunden in Osteuropa und in den Vereinigten Arabischen Emiraten. „Wir sind in einer Branche, in der Geld nicht das Thema ist“, sagt er.
Damit spielt er auf einen weiteren Grund an, wieso die selbst spielenden Flügel Erfolg haben: Steinway- Flügel sind Statussymbole – für viele auch Geldanlage. „Das sind keine Produkte für die Masse“, bestätigt Höpermann. Die Firma bewirbt ihre Flügel auf Luxusmessen und Events statt in Fernsehwerbung.
Die Besitzer des „Spirio“-Flügels wählen via iPad aus rund 2000 Titeln. Klassik, Jazz, auch Charts. Um dieses Repertoire bieten zu können, nutzt die Firma ihre „Steinway Artists“: Das sind Künstler, die lediglich auf Flügeln der Marke spielen, diese somit öffentlichkeitswirksam promoten. Lang Lang, Martha Argerich und Daniel Barenboim gehören u. a. in diese Riege. Die Künstler haben Stücke auf präparierten Flügeln in Studios in New York und Hamburg eingespielt. Neben Tempowahl und Lautstärkegrad wird jede Anschlagsmodulation, jeder Pedaleinsatz aufgezeichnet und in Daten umgewandelt. An diesem System wurde jahrelang geforscht und getüftelt.
Doch Steinway ist kein Vorreiter auf diesem Gebiet; das Unternehmen zieht nach. Andere Firmen experimentieren schon länger mit selbst spielenden Instrumenten, mal ganz abgesehen vom alten mechanischen Welte-Mignon-Klavier zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Yama100000 ha etwa hat Ende der 1980er Jahre damit begonnen, Klaviere mit Sensoren und Magneten anzutreiben. Heute lassen sich diese „Disklaviere“per WLAN mit Boxen in verschiedenen Räumen verbinden, auch Streamen ist möglich. Andere Hersteller bieten Systeme an, mit denen sich Flügel nachrüsten lassen, was bei Steinway nicht möglich ist.
Was aber halten Pianisten vom selbst spielenden Flügel? Fürchten sie, mit sich selbst in Konkurrenz zu treten? Lang Lang erklärt in einem Video, das Steinway veröffentlicht hat: „Es fordert uns heraus.“Er betrachte die Technik als Werkzeug. Indem Profis ihr eigenes Spiel anhören, könnten sie an ihrem Stil feilen und sich verbessern. Dann improvisiert er im Video eine zweite Stimme zu einem Stück, das der Flügel selbst spielt. Die Pianistin Yuja Wang sagt dagegen: „Es ist nicht dasselbe wie ein Live-Konzert. Aber es kommt nahe ran. Das ist ein bisschen unheimlich.“
Doch: Ein Konzertbesuch lässt sich durch „Spirio“kaum ersetzen. Was fehlt, sind die Spontaneität einer Interpretation, die KonzertsaalAtmosphäre. Konzerthäuser jedenfalls sind einstweilen noch nicht an „Spirio“interessiert.
Der Flügel als Statussymbol und auch als Geldanlage