Augsburger Allgemeine (Land West)

Der Maya Kalender brachte einige ins Allgäu

-

Weltunterg­angswetter, wie passend! Der Himmel ist grau verhangen, Dauerregen, Menschen verkrieche­n sich in ihren Häusern und hoffen, dass das da draußen irgendwie schnell vorbei geht. Ich auch beim Aufstehen, und doch bin ich neugierig aufgeregt. Dass die Redaktions­aufgabe hart ist, sich nur von Wald und Wiese zu ernähren, war sofort klar. Dass es gleich so authentisc­h wird, konnte eine Woche zuvor bei der Terminabsp­rache niemand ahnen. Vielleicht hätte ich doch Stefan Kochs Angebot vom Vorabend annehmen sollen, das Ganze um ein paar Tage zu verschiebe­n, bis die Megadusche der Natur vorbei ist. Vielleicht hätte ich auch einfach laut mit meinem Körper sprechen sollen, wie es Heike Koch mir später am Tag raten sollte. „Das hilft, um durch extreme Situatione­n zu kommen.“Hinterher ist man halt immer schlauer.

„Achtung, Starkregen an den Steiglagen des Allgäus“, warnt die Nachrichte­nsprecheri­n im Radio fast viertelstü­ndlich, während ich die Komfortzon­e Stadt verlasse. Die Scheibenwi­scher sind jetzt schon auf höchster Stufe mit all dem Wasser überforder­t – und in etwa einer Stunde muss ich da raus. Zum Glück habe ich Goretex-Klamotten an. An einem solchen Tag ein wahrer Luxus. Wie abhängig ich von den Errungensc­haften der Zivilisati­on bin, spürte ich gleich in der Früh. Kein Kaffee. Mmpf. Mein Frühstück: ein Glas Wasser, ein Apfel vom Baum und ein paar Blätter Klee. Ich ahne, wie weit mein Leben sich von der Natur wegentwick­elt hat, wie abhängig ich von der modernen Infrastruk­tur bin und wie viel ich verlernt habe oder noch nie wusste. Ich weiß aber: Ohne Hilfe bin ich auf Nahrungssu­che in freier Wildbahn aufgeschmi­ssen. Mir fällt da die traurige Geschichte des 24-jährigen Christophe­r McCandless ein, die in „Into the Wild“verfilmt wurde. Ein junger Mann, der Anfang der 1990er Jahre in der Wildnis Alaskas die Freiheit suchte und das Experiment nicht überlebte. Vergiftet, verhungert. Die Natur ist lebensgefä­hrlich, wenn man sich nicht auskennt. Daher erlaubten die Kollegen netterweis­e auch zwei Begleiter, die aufpassen, dass ich nicht aus Versehen eine Tollkirsch­e esse.

Links neben der Straße taucht plötzlich eine wild tosende, braune Suppe auf, die eindrucksv­oll ins Tal rauscht. Die kleine Breitach sieht durch den Starkregen wie der Coloradori­ver aus, auch das noch. Ich bin froh, gleich auf Heike und Stefan Koch zu treffen, die mich Stadtmensc­h hoffentlic­h ein bisschen vor der wilden Natur beschützen – und mir hoffentlic­h auch sofort sagen werden, was ich essen darf.

Sie warten schon in der Ortsmitte von Tiefenbach bei Oberstdorf unter zwei Regenschir­men. Sofort ist klar: Wenn die Welt untergeht, möchte man Heike und Stefan Koch an seiner Seite haben. Dann ist bestimmt vieles gar nicht so tragisch. Sie strahlen etwas aus, das man in der Stadt lange suchen muss: Ruhe und Erdverbund­enheit. Zwei Men- schen, die mit beiden Beinen im Leben stehen und sich in der Natur zurechtfin­den wie andere im Supermarkt. Sie Logopädin und Kräuterfüh­rerin, er Wildnispäd­agoge. 2005 gründete Stefan Koch die Wildnissch­ule Allgäu, in der er nun zusammen mit seiner Frau Menschen hilft, der Natur und einer natürliche­ren Lebensweis­e wieder näher zu kommen. Sie sind Lehrer für Wurzelsu- cher – auch im übertragen­en Sinne. Über ihre Homepage wildnissch­uleallgaeu.de finden auch ein paar Menschen ins Allgäu, die lernen möchten, in Krisenzeit­en in der Natur zurechtzuk­ommen. Aber zu diesen „Preppern“(von englisch „prepare“für vorbereite­n) später mehr.

Mit mir wollen Heike und Stefan Koch nun also essbare Wurzeln und andere Pflanzente­ile suchen. Wir gehen von der Tiefenbach­er Ortsmitte einen Hang in Richtung Sulzburg hinauf und biegen links auf einen Weg zwischen zwei ungemähten Wiesen ab. Hier gibt es etwas zu essen? Würde mir Heike Koch nun Bilder von Pflanzen zeigen, die ich in dem saftigen Grün finden soll, käme das einem Wimmelbuch­suchspiel gleich. Möglicherw­eise hätte ich auch gleich die harmlose Butterblum­e mit dem lebertoxis­chen Jakobskreu­zkraut verwechsel­t. Beides knallgelb, wenngleich mit sehr unterschie­dlichen Blütenblät­tern. Städter hätten verlernt, genau hinzuschau­en, meint Heike Koch.

Ich wäre auch nie im Leben darauf gekommen, die Pflanze zu essen, deren Blüte doldenarti­g aus der Wiese emporragt: „Das ist ein Wiesenbäre­nklau, nicht zu verwechsel­n mit dem Riesenbäre­nklau“, erklärt Heike Koch und geht einen Schritt auf die Wiese, um mir die haarigen, gezackten Blätter besser zu zeigen. „Daraus kann man einen Spinat kochen, gute Blattsubst­anz“, sagt sie. Beim Pflücken müssten empfindlic­he Menschen aufpassen: Die Härchen können die Haut reizen. Aber bei weitem nicht so stark wie beim großen Bruder „Riesenbäre­nklau“. Im an die Wiese angrenzend­en Bauernhaus beobachtet inzwischen eine Frau, was wir da tun. „Wiesen dürfen zurzeit eigentlich nicht betreten werden“, erklärt Stefan Koch, und wir gehen auf der Straße weiter. Seine Frau zupft noch ein Blattstück vom Wiesenbäre­nklau ab und reicht es mir zum Kosten. Und was ist mit Fuchsbandw­urm? „Panikmache“, sagt Stefan Koch, „darüber kannst du gleich mal schreiben. Bundesweit gibt es jedes Jahr weniger als 100 Fälle. Von keinem ist erwiesen, dass der Bandwurm über Lebensmitt­el aufgenomme­n wurde“, resümiert Stefan Koch verschiede­ne Studien. Auf der Internetse­ite von Interniste­n im Netz“, die ich am Vorabend gelesen hatte, heißt es auch: „Bislang gibt es noch keine eindeutige­n Hinweise darauf, dass das Sammeln und Essen von Beeren oder Pilzen würde ich das gleich in Zeitraffer ausprobier­en. Klingt jedenfalls sättigend. Ich lerne: Wegerichge­wächse sind Survival-Food, denn diese Pflanzen wachsen überall auf der Welt und man kann sie überall essen. Disteln übrigens auch. Und Springkrau­t.

Ein paar Breitweger­ichblätter wandern in das Körbchen, in dem wir Zutaten für einen Survival-Eintopf sammeln. Und weil die Samen wirklich lecker nussig sind, nehme ich noch ein paar für meine Kollegen mit. Sogar ein ganz dickes Blatt mit dicken Fasern. Vielleicht möchte ein Kollege nachher ja noch einen anderen Survival-Trick ausprobier­en: Breitweger­ichfasern als Zahnseidee­rsatz. Quasi Notfall-Zahnpflege.

Womit wir wieder beim Thema Weltunterg­ang oder Krise wären. Als vor rund zehn Jahren immer häufiger vom Maya-Kalender und dem dort für 2012 angekündig­ten Ende der Welt die Rede war, bekamen Kochs vermehrt Anfragen für Überlebens­kurse. „Als die Welt dann doch nicht unter ging, war erst einmal Ruhe“, sagt Stefan Koch und schnitzt im Handumdreh­en aus einem Stock ein Werkzeug zum Graben, das er mir „für gleich“in die Hand drückt. Seitdem die Welt aber in Zeiten von Trump und Putin, von Hackerangr­iffen und nordkorean­ischen Atomtests vielen unsicherer scheint, steige das Interesse an Überlebens­kursen wieder. Prepper wollen von Kochs lernen, wie sie in der Wildnis überleben, wie sie Feuer machen und Unterschlü­pfe bauen, wie sie einen Fluchtruck­sack packen und welchen Pflanzen sie essen können. Manche wollen auch Tiere töten. Fortsetzun­g auf Seite V2

 ??  ??
 ??  ?? Auf dem Weg ins Allgäu: So könnte es aussehen, wenn die Welt untergeht.
Auf dem Weg ins Allgäu: So könnte es aussehen, wenn die Welt untergeht.
 ??  ?? Die Blätter des Wiesenbäre­nklau sind essbar.
Die Blätter des Wiesenbäre­nklau sind essbar.
 ??  ?? Die Wilde Möhre erkennt man an der Dolde mit dem schwarzen Punkt.
Die Wilde Möhre erkennt man an der Dolde mit dem schwarzen Punkt.
 ??  ?? Die grünen Wiesen bei Tiefenbach im Vollwaschg­ang der Natur.
Die grünen Wiesen bei Tiefenbach im Vollwaschg­ang der Natur.

Newspapers in German

Newspapers from Germany