Augsburger Allgemeine (Land West)
Jetzt sprechen die 87 Prozent
Debatte Nach dem Aufstieg der AfD diskutieren auch viele jüngere Menschen plötzlich über Politik. Eine Generation kommt aus ihrer Wohlfühlecke
Es ist der Morgen nach der Abstimmung über den EU-Austritt Großbritanniens. Tausende junge Menschen auf der Insel wachen mit dem Gefühl auf, dass da etwas komplett an ihnen vorbei gelaufen ist. Viele fühlen sich um ihre Zukunft betrogen. Ein Teil Europas zu sein, war für sie selbstverständlich gewesen. So selbstverständlich, dass sie den erbitterten Streit um den Brexit kaum zur Kenntnis genommen hatten. Bis zu jenem Morgen. Und nun fragen sie sich, warum sie sich erst jetzt ernsthaft dafür interessieren. Auch in Deutschland scheint es vielen jüngeren Menschen in diesen Tagen so zu gehen.
Am Arbeitsplatz, im Freundeskreis oder in der Kneipe diskutieren sie plötzlich über Politik. Und über die Frage, warum so viele Deutsche eine Partei gewählt haben, die vom Dagegensein lebt. Die Werte wie Meinungsfreiheit und Toleranz pauschal als „Political Correctness“abtut, die auf den „Müllhaufen der Geschichte gehört“. Eine Partei, die ihre Gegner „jagen“will und den zivilisierten Umgang, den die anderen politischen Kräfte über Jahrzehnte etabliert haben, als „Altparteienkartell“lächerlich macht.
Viele junge Deutsche fragen sich, warum es fast sechs Millionen Wählern offenbar egal ist, dass in der AfD auch Platz ist für Rechtsradikale, Rassisten und Verschwörungstheoretiker. Sie fragen sich, was für ein Land und was für ein Volk das sein soll, das sich AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland „zurückholen“will. Sie fragen sich, wie sich unsere Gesellschaft verändert, wenn die politische Debatte nicht mehr auf Lösungen oder Konsens abzielt, sondern auf Abgrenzung und Feindseligkeit. Und wie vorher die Briten, fragen auch sie sich jetzt, warum sie sich das erst jetzt fragen.
In sozialen Netzwerken melden sich gerade viele Menschen zu Wort, die sich vorher höchstens am Rande für Politik interessiert haben. Unter dem Kürzel #87Prozent schreiben sie dagegen an, dass die AfD als Vertreter der anderen knapp 13 Prozent den Ton und die Themen vorzugeben scheint.
Hier spricht auch die Generation Kohl, die sich bislang bequem und weitgehend unpolitisch in ihrer Wohlfühlecke eingerichtet hatte. Erst im Westen, dann im wiedervereinigten, friedlichen Deutschland, das den Kalten Krieg hinter sich gelassen hatte. Es ist eine Generation, die sich heute auch im Merkel-Land ganz wohl fühlt, für die Europa kein Schimpfwort ist und die nicht so recht verstehen konnte, was die Leute meinen, die vor dem Untergang des Abendlandes warnen.
Natürlich kann man dieser Generation jetzt vorhalten, sie hätte sich doch schon vorher engagieren können. Und man kann sie fragen, ob sie überhaupt gewählt hat. Man kann in dem späten Aufschrei aber auch ein gutes Signal sehen. Nach den einschläfernden großkoalitionären Jahren mit selbstverständlichen Mehrheiten braucht dieses Land endlich wieder echte, ergebnisoffene Diskussionen. Mit der AfD wird sich der Ton in der Auseinandersetzung verschärfen. Dass sie die Debatten künftig im Bundestag führt und nicht mehr nur in Talkshow-Sesseln, bietet der politischen Konkurrenz aber auch die Chance, die Partei mit ihren vermeintlich so einfachen Antworten zu entzaubern.
Und wenn junge Menschen dadurch erkennen, dass es eben keine Selbstverständlichkeit ist, jeden Morgen in einem freien und offenen Land aufzuwachen – umso besser.