Augsburger Allgemeine (Land West)
Aus Tigern werden Kätzchen
Manches im Leben lässt einen immer wieder staunen, wirkt auf den ersten Blick unerklärlich. Flugzeuge beispielsweise. Wie kann es sein, dass tonnenschwere Kolosse weit oben am Himmel der Schwerkraft trotzen? Der aufgeklärte Mensch weiß natürlich, physikalisch ist das Fliegen zu erklären. Das hat mit Antrieb und Luftwiderstand zu tun, mit Auftrieb und Gewicht. Fliegen ist keine Zauberei, es besteht ein kausaler Zusammenhang.
Im Sport indes ist weit verbreitet, Ursachen und Wirkung geflissentlich außer Acht zu lassen. Niederlagen etwa erscheinen oft unerklärlich. Erst recht dann, wenn sie einer komfortablen Führung entspringen. Das vermeintlich Unerklärliche auf die Spitze getrieben haben vor ziemlich genau vier Jahren Deutschlands Fußball-Nationalspieler, als sie sich von den Schweden eine 4:0-Führung entreißen ließen. Geradezu historisch war das. Ebenso die Finalniederlage der Bayern 1999 in der Champions League gegen Manchester United. Einfach unerklärlich.
Sportpsychologen lächeln darüber milde. Für ihre Tätigkeit ist es schließlich elementar, scheinbar Unerklärliches zu erklären. Sie entschlüsseln geistige Vorgänge im Gehirn und stoßen dort auf wiederkehrende Muster. Ihr Fazit überrascht wenig: Nur wer mental auf der Höhe ist, kann Erfolg haben. Was hilft schließlich der austrainierteste Körper, wenn Hand und Fuß falsch angeleitet werden?
Dass die Schaltzentrale versagt, kann unterschiedliche Gründe haben. Weit oben auf der Skala: das Negativerlebnis. Mitunter genügt ein Gegentörchen, um Matchpläne ins Nirwana zu schicken. Ängste bahnen sich ihren Weg, Selbstvertrauen weicht Zweifeln, Spieler verfallen in ungewollte Handlungsabläufe, agieren kopflos, finden keinen Ausweg mehr. Angriffslustige Tiger werden so zu zaghaften Kätzchen.
Davor gefeit ist keine Mannschaft. Der FC Bayern führte in der laufenden Bundesligarunde in Berlin schon einmal mit 2:0. Dieser Vorsprung genügte den Münchnern ebenso wenig wie jetzt den Dortmundern in Frankfurt. Dass der FC Augsburg und Borussia Mönchengladbach am Wochenende im Rahmen ihrer Niederlagen lediglich ein 1:0 verspielten, wird sie kaum trösten.
Doch: nichts Schlechtes ohne etwas Gutes. Fehler sind dazu da, aus ihnen zu lernen. Mentaltrainer sind inzwischen im Fußball weit verbreitet. Sie werden für die Profis aus Dortmund oder Augsburg „StoppCodes“entwickeln, um die geistige Abwärtsspirale während eines Spiels aufzuhalten.
Letztlich ist das Verspielen eines Vorsprungs nämlich nichts anderes als Fliegen: Es ist erklärbar.