Augsburger Allgemeine (Land West)
Wenn im Alter die Depression zuschlägt
Das Therapieangebot von „Pikasso.2“ist für Senioren gedacht, die psychisch erkrankt sind. Dort erhalten sie Unterstützung und lernen, wieder Lebensmut zu schöpfen. Drei Patienten erzählen von ihren Erfahrungen
Annie S. spürte schon seit längerem eine tiefe Traurigkeit in sich. Auslöser waren Todesfälle im persönlichen Umfeld und der Verkauf des eigenen Hauses, in dem sie mit ihrem Mann 40 Jahre lang gelebt hatte. Die 83-Jährige hatte ihre Lebenslust verloren. Seitdem die Seniorin regelmäßig die Stunden bei „Pikasso.2“besucht, geht es ihr viel besser. Hinter dem Namen steckt ein Therapieangebot für ältere Menschen, die psychisch erkrankt sind. Die meisten von ihnen leiden unter Depressionen.
Nach außen wirkte Annie S. immer fröhlich. „Ich wollte meine Kinder nicht belasten“, sagt die gepflegte Dame mit den Perlenohrringen und dem beigefarbenen Rollkragenpullover. Innerlich jedoch war sie lebensmüde. Einmal offenbarte sie sich ihrem Mann. Der zeigte kein Verständnis. „Er fand es lächerlich.“Als Annie S. ihre Depressionen nicht mehr aushielt, ging sie selbst in die Ambulanz des Bezirkskrankenhauses (BHK). Ihrer Fami- verheimlichte sie dies. Dort empfahl ihr eine Ärztin „Pikasso.2“. Das Therapieangebot der gerontopsychiatrischen Institutsambulanz des BKH gibt es seit zehn Jahren und ist in der Heilig-Kreuz-Straße 2 in der Innenstadt zu finden. Der Name setzt sich zusammen aus Buchstaben der Worte präventiv, integrativ, koordiniert, ambulant, selbsthilfefördernd und sektorenübergreifend.
160 Frauen und Männer zwischen
50 und 90 Jahren nehmen mindestens einmal pro Woche das Angebot in Anspruch.
Sie besuchen die Gruppenstunden, etwa für Depressionsbewältigung, die Ergotherapie oder nehmen an Entspannungsübungen teil.
75 Prozent der Patienten haben Depressionen, berichtet Leiterin Gabriele Eisinger. Trotz ihrer Berufserfahrung findet sie diesen hohen Anteil unter Senioren immer wieder erstaunlich. Das sei ein echtes Problem. „Das hat oft mit Einsamkeit zu tun, mit dem körperlichen Abbau und auch mit dem Verlust des Lebenspartners.“Manche Patienten seien im Alter auch nicht zufrieden mit ihrer Lebensbilanz. Bei „Pikasso.2“gibt es ein breites Angebot an therapeutischen Gruppen, Einzelgesprächen und Einzeltherapien. Persönliche Fähigkeiten werden gestärkt, die Selbstständigkeit gefördert. Den Mitarbeitern ist die Interaktion mit den Patienten und deren Angehörigen wichtig. Auch an Demenz Erkrankte oder Schlaganfallpatienten werden gefordert und gefördert. Wie etwa Marion P.
Die 71-Jährige hat bereits zwei Schlaganfälle hinter sich. Vieles musste sie wieder neu lernen. „Ich war sehr schlecht beieinander.“Nach Klinik- und Rehaaufenthalten wurde ihr „Pikasso.2“empfohlen. Seitdem nimmt Marion P. dort am Gedächtnistraining sowie am Kurs „Sturzprävention“teil und wird psychologisch unterstützt. „Ich habe endlich gelernt, anzunehmen, was mir passiert ist.“Der wöchentliche Besuch der Therapiestunden sei für sie stets ein Höhepunkt. „Ich bin so gerne hier.“Sicherlich auch, weil sie auf andere Frauen und Männer trifft, die ebenfalls ihre Probleme und Schicksalsschläge zu bewällie tigen haben. Das schweißt zusammen und bietet gemeinsamen Gesprächsstoff. Leiterin Eisinger bestätigt das. „Soziale Kontakte sind hier das A und O. Kommunikation ist auch wichtig für das Gehirn.“ Manche Patienten, die sich bei der Therapie kennenlernen, würden sich privat treffen. Das freut Eisinger dann besonders. Kein Bedarf an anderen Menschen hingegen hatte anfangs Jürgen S.
Fast drei Jahre lang wurde der stämmige Mann, der unter schweren Depressionen litt, bei „Pikasso.2“betreut. Mit seinen jetzt 48 Jahren war er einer der jüngsten Patienten. Zu Beginn hatte Jürgen S. auf die Therapiestunden keine Lust, wie er auch sonst auf nichts Lust hatte. Die Depressionen lähmten ihn. Er schaffte es nicht einmal mehr in die Arbeit. „Bei Pikasso wurden mir auch mal die Leviten gelesen“, erzählt er freimütig. Irgendwann begann er doch, sich mit Mitarbeitern und anderen Patienten zu unterhalten. Die Therapie bereitete ihm immer mehr Freude. „Ich fand den Weg zurück ins Leben“, erzählt er stolz. Auch sein Arbeitgeber habe ihn wieder genommen. Heute brauche er die Therapie nicht mehr.
Die Patienten bleiben unterschiedlich lang, berichtet Gabriele Eisinger. Das kann von einigen Wochen bis zu ein paar Jahren dauern. Manchmal würden auch Therapiepausen eingelegt, um zu überprüfen, ob der Patient wieder alleine klarkommt. Wenn nicht, werde die Zusammenarbeit fortgesetzt. „Patienten mit Demenz bleiben sehr lange, da die Krankheit nicht heilbar ist.“Patientin Annie S. spürt längst nicht mehr diese tiefe Traurigkeit in sich, die sie einst hatte. „Ich freue mich jedes Mal, hier zu sein. Hier fühle ich mich verstanden.“
Soziale Kontakte sind sehr wichtig