Augsburger Allgemeine (Land West)
Diese entsetzten Blicke
Achtung: Julia Roberts! Obacht: Rührstück? Ihr Sohn trägt am liebsten einen Astronautenhelm, denn sein Gesicht ist entstellt. Eine Geschichte über Scham, das Gute und das Schlechte im Menschen – als Roman ein Welterfolg
„Ich weiß, dass ich kein gewöhnlicher Zehnjähriger bin“, sagt Auggie (Jacob Tremblay) zu Beginn des Films. Der Junge trägt einen Astronautenhelm über dem Kopf und als er ihn abnimmt, ist klar, wovon er spricht. Aufgrund eines genetischen Defektes ist Auggies Gesicht deformiert. Lange Narben gehen die Wangen hinunter, die Nase ist platt, die Ohren krumm und schief, die Augen haben eine tränenartige Form. Ganze 27 Operationen hat er seit seiner Geburt hinter sich gebracht, um selbstständig atmen, sehen und hören zu können.
Wie Trophäen hängen die Krankenhausbänder in einem Bilderrahmen an der Wand. Zur Schule ist Auggie nie gegangen. Seine Mutter Isabel (Julia Roberts) hat ihn bisher zuhause unterrichtet. Aber nun soll das Kind zu Beginn der fünften Klasse eine reguläre Schule besu- chen. Als er den Schulhof betritt starren ihn alle an. Langsam fährt die Kamera an den entsetzten Gesichtern entlang. Es kostet viel Kraft, solche Blicke auszuhalten.
Die Eingewöhnung in ein öffentliches Dasein fällt Auggie schwer. Es ist nicht nur das peinlich berührte Abwenden und Getuschel. Manche Mitschüler sehen in ihm ein ideales Mobbing-Opfer und im Sportunterricht wird er von allen Seiten mit Bällen beworfen. Selbst Jack (Noah Jupe), der sich unvoreingenommen mit ihm angefreundet hat, wendet sich unter dem sozialen Druck von ihm ab.
Auggies Familie hingegen ist für den Jungen ein Hort der Geborgenheit. Mutter und Vater (Owen Wilson) stehen ihm mit gar nicht mal so unklugen Ratschlägen zur Seite genauso wie seine ältere Schwester. „Auggie ist wie die Sonne“, sagt Via (Izabela Vidovic), „alle in der Fami- lie kreisen nur um ihn.“Grund genug für Regisseur Stephen Chbosky, der hier dem Jugendroman von R. J. Palacio folgt, es ihnen nicht gleich zu tun. Aus vier verschiedenen Perspektiven blickt der Film auf Auggie und sein soziales Umfeld.
Der zweite Teil des Filmes gehört Via, die es als große Schwester gewohnt ist, nur wenig familiäre Aufmerksamkeit zu bekommen. Das hat sie bisher mit einer gewissen Traurigkeit, aber ohne Verbitterung ertragen. Als ihre beste Freundin Miranda (Danielle Rose Russell) sich nach dem Sommercamp einer neuen Clique zuwendet, fühlt sich Via verloren. Aber gerade diese Verlorenheit treibt sie in einen Theaterkurs und in ihre erste Liebe hinein. In zwei weiteren Teilen wird der Blick noch weiter geöffnet und die Sicht der beiden vermeintlichen Verräterfiguren Miranda und Jack eingenommen.
Diese multiperspektivische Erzählweise erweitert das Empathiekonzept des Filmes und holt seine Hauptfigur Auggie aus der Opferecke heraus. Das bewahrt den Film vor jener schrecklichen Rührseligkeit, mit der man eine solche Geschichte normalerweise in Hollywood erzählen würde. Dennoch bleibt hier kein Auge trocken, wenn Auggie seinen Weg zur schulgesellschaftlichen Anerkennung findet.
Etwas zu deutlich formt Regisseur Chbosky, der sich mit „Vielleicht lieber morgen“(2012) als sensibler Independent-Filmer profiliert hat, seine Botschaft von Mitgefühl und Freundlichkeit aus, die nicht nur für Auggie den Weg zur Glückseligkeit ebnet. In seinen Figurenzeichnungen hingegen beweist der Film eine überzeugende Integrität, weil er das Gute im Menschen mit all seiner Fehlerhaftigkeit herausarbeitet, ohne daraus aufwendige Katharsisprozesse ableiten zu müssen.