Augsburger Allgemeine (Land West)
Eigenständig im Alter, aber nicht allein
Es gibt Alternativen zum betreuten Wohnen oder Heim. Eine Gruppe von Senioren praktiziert in Augsburg ein fürsorgliches Miteinander und zeigt, wie das gelingen kann
Augsburg Die Krebsoperation bedeutete für sie eine Zäsur. Irmgard Hengge war gerade 70 geworden. „Anschließend merkte ich, dass mir das große Haus in Ulm eigentlich viel zu viel Arbeit machte.“28 Jahre lebte sie dort zusammen mit ihrem Mann. Vier Kinder waren darin aufgewachsen. Ihr Mann Werner werkelte leidenschaftlich gerne im Garten. So etwas gibt man nicht leicht auf. Doch Irmgard und Werner Hengge entschlossen sich trotzdem dazu. Denn zu oft hatten sie erlebt, dass Ältere ins Altersheim müssen, weil sie sich nicht rechtzeitig um die Frage gekümmert haben: Wie will ich im Alter leben?
Das Ehepaar Hengge hatte das Glück, Freunde und Bekannte zu haben, die frühzeitig Antworten auf diese Frage haben wollten. Was sie alle einte, sie strebten ein gemeinschaftliches Zusammenleben an, das aber jedem seine Freiheit, sein eigenes Leben garantiert. Das entsprach auch den Vorstellungen des Ehepaars Sigrid und Bruno Czaputa, beide Jahrgang 1936. Sie bewohnten ein schönes Haus in Wolfratshausen. Am Teich genoss es Sigrid Czaputa, ihre Qigong-Übungen zu machen. Doch auch sie und ihr Mann gaben ihr Haus auf. Sie zogen um nach und leben dort nun zusammen mit dem Ehepaar Hengge und 17 weiteren Senioren in einem Haus. Die Jüngste ist 63, der Älteste
89. Sie kommen von überallher, ein Herr sogar aus Rom.
Der Weg zu dieser besonderen Hausgemeinschaft war lang. Doch er lohnte sich. Wer die aufgeschlossene Gruppe an einem ihrer regelmäßigen Monatstreffen besucht, kann Karin Weiss verstehen, die erklärt: „Was mich fasziniert ist diese Kombination aus Gemeinschaft, Geschwisterlichkeit und grosser Freiheit.“Die 87-jährige Berta Leutner, die aus dem Allgäu stammt, ergänzt: „Wir wollen miteinander leben und nicht nebeneinander.“Jeder der 21 Senioren hat seine eigene Wohnung. Jeder kann seinen Tagesablauf gestalten, wie er will. „Und doch ist niemand allein“, betont Berta Leutner.
Doch wie gelingt so ein Miteinander? Basis ist die Freundschaft dieser Menschen, die alle auf keinen Fall in ein Altersheim wollten, sondern eine Alternative suchten. Viele der Hausbewohner kennen sich von der Fokolarbewegung. Es ist eine Gruppe von Gläubigen innerhalb der katholischen Kirche, der die Einheit der Menschen weltweit besonders am Herzen liegt und die vor allem die Ökumene leben möchten. „Das Haus selbst ist aber keine Einrichtung der Fokolarbewegung“, betont Bruno Czaputa. Vielmehr wollten sie einfach mit Gleichgesinnten zusammenleben.
Dafür brauchten sie aber erst einmal ein Haus. Und da hatten sie Glück. Die Hans Heyne-Stiftung, die von der Diözese Augsburg verwaltet wird, kaufte eines in Augsburg. Die Stiftung fördert unter anderem Projekte für Menschen im Alter. Für die Umsetzung des Miteinander-Hauses gründeten die Senioren zusammen mit jüngeren Menschen, die sie bei ihrem Anliegen unterstützten, eine kleine Sozialgenossenschaft. So kam es, dass im Oktober 2010 die ersten behinderAugsburg tenfreundlichen Wohnungen in Augsburg bezogen werden konnten. Um für alle Eventualitäten, die das Alter oft mit sich bringt, gewappnet zu sein, schloss jeder der Genossenschaftsmitglieder und Mitbewohner auch einen Betreuungsvertrag ab. Die Betreuerin kommt regelmäßig vorbei. Wer sie treffen will, trägt sich einfach in eine Liste ein. Und es gibt für alle, die möchten, einen Spielenachmittag. Ansonsten bleibt es jedem selbst überlassen, wie eng oder distanziert er das Miteinander gestaltet.
Mancher Bekannter des Ehepaars Czaputa reagierte auf ihren Umzug verständnislos: „Wie kann man nur so dumm sein, sagte einer“, erinnert sich Sigrid Czaputa. Schließlich zahlt das Ehepaar als Mieter heute monatlich sogar mehr Geld als es im eigenen Haus gebraucht hätte. „Unsere Tochter wird inzwischen jedoch beneidet“, erzählt die 81-Jährige. Eltern, die rechtzeitig für ihr Altersdasein selbst sorgen, das entlastet auch die Kinder. Und nicht nur die Kinder werden beneidet. Karin Weiss, die mit ihren 75 Jahren noch immer als Meinungsforscherin arbeitet, sagt nicht ohne Stolz: „Mich beneiden viele um unser Miteinander-Haus. Es herrscht eben ein besonderer Geist bei uns. Das spüren viele Besucher.“