Augsburger Allgemeine (Land West)
Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (78)
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbruder nennt. Er kommt aus dem Schlamassel, aus seinen Verhältnissen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomisch. ©Projekt Guttenberg
Stubben, dämlicher!“piepst Monte.
Der ist also jedenfalls noch da. Und Jänsch, in seinem tiefsten Baß, doch schon erlöster: „Mich möchste woll, Puppenjunge?!“
Schallendes Gelächter – und die Augen sehen wieder, sehen wieder neu ins Sonnenlicht, erkennen einander: nein, es ist keiner mehr fortgeschlichen, sie blieben beieinander.
„Na“, brummt Jänsch, „werden wir ja morgen früh sehen, wer sich die Sache noch mal beschlafen hat. Ich trau’ keinem mehr.“„Trauen – hab’ ich nie getan.“„Alle Menschen sind Schweine.“„Hör zu“, sagt Maack zu Jänsch. „Es ist doch besser, du übernimmst von jetzt an das Schreibstubenkommando. Du machst das besser als ich, Jänsch.“
„Bist zu fein, Maack“, sagt Jänsch mißbilligend. „Ich denk’ immer: fein kommt von dünn. Alles Scheiße. Also nun los. Kufalt, du mußt
mittippen, nimm dich ein bißchen zusammen, verstehste?!“
„Ja“, sagt Kufalt.
„Und ich?“jammert Monte. „Ich kann doch nicht zehntausend alleine packen!“
„Wärst du vorhin aus der Tür getrudelt“, sagt Jänsch. „Na, laß man, reg dich bloß nicht künstlich auf. Wir helfen dir alle heute abend. Los!“
Und nun geht es wirklich los. Kufalt, wieder einmal an der Maschine, an einer schönen, neuen Maschine, ist glücklich. Glücklich und unruhig.
Glücklich, denn die Finger tanzen los, kaum hat das Auge die Adresse auf der Kartothekkarte erwischt, tanzen, fehlerlos, und weiter, weiter. Wo ist die letzte Nacht? Versunken, vergessen, er wird einfach umziehen, aus, Liese, aus! Das ist das Gute im Leben: immer wieder kommt etwas anderes, man braucht sich nicht an das Vergangene zu hängen, vorbei, vorbei!
Wie die andern hat er die Um- schläge zu Hunderten gebündelt neben sich liegen. Er reißt eine Schlaufe durch, sein Nachbar, der Fasse, hat vor drei oder vier Umschlägen seine Schlaufe zerrissen – und als Kufalt mit seinen hundert durch ist, hat Fasse noch ein paar Umschläge nach. Ach, Kufalt ist hoch in Form, es sind seltsame Dinge, aber so ist es, man weiß nichts voraus, heute hätte es schlecht gehen müssen und heute geht es gut. Er ist glücklich.
Aber unruhig. Und unruhig sind alle andern auch. So viel Geräusper, Stocken, nachdenkliches Pfeifen, Summen hat es noch nicht gegeben bei ihnen. Gut, Seidenzopf ist dagewesen, er hat gedonnert und gedonnert, aber darum ist das Gewitter noch nicht vorbei – der Blitz ist nicht niedergefahren. Sager war kein Blitz. Seidenzopf war kein Blitz… Immer noch steht das Gewitter am Himmel – wann kommt der Blitz?
Punkt fünf Uhr fünfunddreißig fuhr der Blitz aus dem Himmel. Punkt fünf Uhr fünfunddreißig klopfte es hart gegen die Tür. Maack (natürlich Maack, als ob er noch Schreibstubenvorsteher wäre!) rief ,Herein‘, die Gesichter drehten sich zur Tür, ein trat Pastor Marcetus.
„Guten Abend“, sagte er und ging drei, vier Schritte bis in die Mitte des Raumes.
„Guten Abend“, sagten ein paar, gehorsam, halblaut, und verschluckten sich dabei.
Vier (Maack, Kufalt, Jänsch, Deutschmann) wandten sich wieder an ihre Arbeit, die Maschinen fingen wieder an zu tippen und…
Und „Ruhe!“sagte Marcetus. „Ruhe!!!“
Drei (Maack, Kufalt, Jänsch) tippten doch weiter.
„Ruhe!“sagte der Pastor ein drittes Mal. „Sie werden doch soviel Anstand besitzen, Ruhe zu halten, wenn ich fünf Minuten zu Ihnen sprechen möchte. Ja?“
Einer (Einer! nämlich Jänsch) tippt weiter, vertippt sich, tippt wieder los, es klingt so dünn, so verloren in dem großen Raum, der eben noch so laut war – Jänsch sagt wütend: „Ach scheiß!“Und auch seine Maschine verstummt.
„Richtig!“sagt der Pastor scharf zu Jänsch. „Außerordentlich richtig. Sie haben sich schön hineingeritten.“Er schweigt wieder, Jänsch brummt böse, der Pastor sieht sich um und sagt sehr höflich: „Herr Monte, überlassen Sie mir bitte für fünf Minuten Ihren Stuhl – ich bin ein alter Mann.“
Monte springt gehorsam und ein bißchen rot auf, Jänsch brummt noch böser, aber er hindert Monte nicht, den Stuhl in die Mitte des Zimmers zu setzen.
„Danke schön“, sagt Marcetus freundlich und setzt sich. Er setzt sich ruhig hin und sieht sich im Kreis um. Kufalt kommt es vor, als werde er besonders eindringlich und mit einem besonderen Stirnrunzeln angesehen.
„Nun…“, sagt der Pastor langgedehnt.
Aber nichts erfolgt.
Der Geistliche hat seinen schönen, schwarzen, steifen Haarhut in der einen Hand, ein gutes, großes, weißes Leinentuch in der anderen. Er fährt sich damit manchmal leicht über das Gesicht. Ein rosiges, volles Gesicht mit einem ausdrucksvollen Mund und einem starken Kinn. (Die um ihn sitzen, haben alle ein schwaches Kinn, bis auf Jänsch, der nun wieder eine andere Art starkes Kinn hat, mehr ein Boxerkinn.)
Und Jänsch ist es also auch, der da schließlich sagt, brummig und böse: „Bitte, Herr Pastor, wir müssen arbeiten, wir haben nicht so viel freie Zeit wie Sie.“Der Pastor geht darauf nicht ein, er sagt vielmehr zu Jänsch: „Sie sind hier der Obmann, ja? Der Schreibstubenleiter? Oder ist es nicht vielmehr Herr Maack?“
„Sager hat Sie angelogen“, grinst Jänsch. „Ich bin hier der Vorsteher.“
„So“, sagt der Pastor und denkt nach. Noch einmal: „So.“Er überlegt gründlich. Dann fragt er: „Dann erledigen Sie hier also alles: Auszahlen. Verrechnen und so weiter?“
Auch Jänsch überlegt. Er sieht einmal rasch zu Maack hinüber, aber der Pastor folgt so aufmerksam diesem Blick, daß die beiden sich nicht verständigen können.
So sagt Jänsch mürrisch: „Ja, tu’ ich.“Der Pastor sagt sanft: „Dann nehme ich an, daß dieser Gewerbebetrieb von Ihnen korrekt bei der Gewerbepolizei angemeldet worden ist.“
Stille.
„Und daß der Lohnabzug für Einkommensteuer von Ihnen richtig verrechnet worden ist, ja?“Stille.
„Und daß die Anmeldungen zur Krankenkasse erstattet sind? Und die Marken geklebt?“Ziemlich lange Stille.
Der Pastor sieht nicht mehr die Gesichter seiner Leute an, er schaut nachdenklich und gütig in den blauen Sommerhimmel, der ganz durchgoldet ist. Dafür sehen sich die sieben untereinander an, sehr flüchtig nur, es liegt so was in der Luft …
„Wir danken Ihnen verbindlichst, Herr Pastor“, sagt Maack höflich, „das kann alles noch erledigt werden. Heute ist ja erst der dritte Tag.“
„So“, sagt der Pastor.